Grenzkontrollen: Nur der Anfang vom Ende von Schengen | ABC-Z
In ihrem gemeinsamen Buch
“Posttraumatische Souveränität” erzählen die polnischen Intellektuellen Karolina Wigura und Jarosław
Kuisz von der osteuropäischen Angst,
wieder Opfer einer Großmacht zu werden. In diesem Gastbeitrag beschäftigen sie sich
mit einer neuen alten Sorge: geschlossenen Grenzen.
Olaf Scholz muss die Idee
der Zeitenwende so gut gefallen haben, dass er gleich zum zweiten Mal eine
eingeläutet hat: An allen deutschen Landgrenzen sind die Grenzkontrollen
zurück. Geht es dabei auf Sachebene um die Begrenzung illegaler Migration, ist
die Regierung dennoch ganz offensichtlich in einen politischen Wettstreit mit
der AfD getreten. Um in diesem Wettstreit die Oberhand zu gewinnen, hat
Scholz das Versprechen der offenen europäischen Grenzen gebrochen, als wäre es
das wert.
Die neue deutsche Grenzpolitik –
die Einführung stichprobenartiger Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen, um
illegale Zuwanderung zu begrenzen – wurde von der deutschen Regierung wie über
Nacht umgesetzt. Ohne nennenswerte Rücksprache mit den Nachbarländern. Nach der
ersten Zeitenwende, dem radikalen Richtungswechsel der deutschen
Verteidigungspolitik, ist diese neue Grenzpolitik wie eine zweite Zeitenwende
binnen kürzester Zeit. Eine politische Entscheidung von immenser Bedeutung für
die Zukunft Europas. Um zu verstehen, wie wichtig sie ist, lohnt es sich, ein
wenig in der Zeit zurückzureisen.
In den Neunzigerjahren konnten
wir damals Jugendlichen, die hinter dem Eisernen Vorhang geboren waren, endlich
nach Westeuropa reisen. Um Sprachschulen zu besuchen, Ausflüge zu machen oder
um zu arbeiten. Die langen Fahrten wurden in billigen, klapprigen Reisebussen
unternommen. Noch war es obligatorisch, einige Stunden an einem Grenzübergang zu
warten, zum Beispiel an der deutsch-polnischen Grenze in Świecko. Doch unsere Geduld
wurde mit einer Reise in die Zukunft belohnt: in die Europäische Union, die
damals wie ein Versprechen auf ein besseres Leben war. Und ein Versprechen auf
offene Grenzen.
Der Grenzbeamte, der damals
im Bus an der deutsch-polnischen Grenze unsere Pässe einsammelte, wird nie
ahnen können, wie bedeutend er für uns war. Er lief einfach durch den Bus, sammelte
alle Dokumente ein, trug sie in sein Büro, stempelte sie ab und brachte sie
zurück. Wir aber schrieben ihm eine fast geheime Macht zu, als ob er die
Schlüssel zu unserer Zukunft in der Hand hätte. Wir fühlten uns wie in einer
alternativen Version von Kafkas Vor dem Gesetz: So wie der Mann in
Kafkas Text fast sein ganzes Leben lang vor der Tür des Gesetzes gewartet hatte
und nie eingelassen worden war, so waren die Tore Europas für unsere Eltern und
Großeltern mit einem eisernen Vorhang verschlossen. Wo der eiserne Vorhang
verlaufen sollte, hatten sie nie beschlossen, sondern die großen drei: Stalin,
Roosevelt und Churchill. Und hier, für uns in den Neunzigern, so schien es, war
ein Wunder geschehen. Wir waren plötzlich frei, über Grenzen zu fahren. Für
uns ging die kafkaeske Parabel gut aus – endgültig dann 2007.
In einer kalten Dezembernacht,
jener vom 20. auf den 21. Dezember 2007, hatten sich Menschen auf beiden Seiten
der deutsch-polnischen Grenze versammelt. Die Kälte hielt sie nicht vom Feiern
ab, als Polen dem Schengenraum beitrat. Die deutsche und die polnische
Nationalhymne wurden gesungen, und auch die der Europäischen Union. Man schnitt
Stacheldraht durch. Die Abschaffung der zwischenstaatlichen Grenzen war für die
Mittel- und Osteuropäer wie ein Abschied von einer für sie ungerechten Welt. Die
Art und Weise, mit der die Bundesregierung die Grenzkontrollen
nun wieder eingeführt hat, zeigt, dass das Ende zwischenstaatlicher Grenzen für
Westeuropa schon immer eine ganz andere Bedeutung gehabt haben muss als für den
Osten.
Für Frankreich zum
Beispiel war das Ende der Grenzkontrollen ein weiterer Schritt im Prozess der
wirtschaftlichen und kulturellen Integration, der von Präsident Charles de
Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer eingeleitet worden war. Vielleicht ist
das der Grund, warum man ob der neuen deutschen Grenzpolitik von französischer
Seite bisher hauptsächlich Klagen über die längere Reisezeit für Berufspendler
hört, die im westlichen Teil Deutschlands arbeiten.
Für Mittel- und Osteuropa
geht es um viel mehr. Das Ende der Grenzkontrollen in den frühen 2000er Jahren war
wie eine Rückkehr nach Europa – eine Wiederherstellung der Würde nach einem
halben Jahrhundert des Kalten Krieges. Wie ein Ausgleich für das Unrecht nach
dem Zweiten Weltkrieg. Eine geopolitische Rückkehr zur Normalität. Der Schengenbeitritt
war für die Menschen unglaublich bedeutend, weil sie sich endgültig aus der
russischen Einflusssphäre wussten.
Ein präventiv verlorener Wettstreit
Die neue deutsche
Grenzpolitik ist deshalb mehr als ein Misstrauensvotum gegenüber dem Umgang der
Nachbarländer mit illegaler Einwanderung. Sie ist der Beginn eines Wettstreits
um politische Versprechen zwischen den extremen Rechten und der Regierung – und die
Entscheidung so offensichtlich eine Reaktion auf die jüngsten Wahlerfolge der AfD
in Thüringen und Sachsen. Es gab in vergangener Zeit zwar immer wieder
Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze. Sie fanden aber unter
anlassbezogenen Vorwänden statt und waren zeitlich begrenzt – der Krieg in der
Ukraine, die Fußballeuropameisterschaft. Nur ist die Idee, Migration durch die
derzeitigen Grenzkontrollen dauerhaft zu begrenzen, eine wenig effektive, weil Grenzen
nie wirklich undurchlässig sein werden. Riskant am Weg der
Bundesregierung ist daher, dass es im Wettstreit mit der extremen Rechten gar
kein Ende wird geben können, außer: bei harten zwischenstaatlichen Grenzen. Dann
wäre das, was gerade passiert, nur eine Übergangslösung auf einem langen Weg
zum Ende von Schengen.
Die Frage, ob ein
gemeinsamer europäischer Blick auf Grenzen zukünftig überhaupt noch wichtig
sein soll, ist nicht nur eine politische, sondern eine zivilisatorische. Der
tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera hat einmal gesagt, dass
ein Europäer jemand ist, der Nostalgie für Europa empfindet. Dieses Gefühl der Europanostalgie
beschleicht uns nun, da wir befürchten, dass der Wettstreit der
Regierung Scholz mit den Populisten weiterhin nichts Gutes bringen wird.
Björn Höcke und seine
Entourage reden längst von Massenabschiebungen und jonglieren mit dem Begriff
Remigration. Höcke kündigte an, dass er, sollte er jemals eine Regierung bilden,
keine halben Sachen machen würde. Wenn es so käme, würde dann eine neue Mauer ganz Deutschland umschließen, um die Grenzen des Landes ein für alle Mal effektiv
abzuriegeln? Angesichts der Tatsache, dass die deutsche Identität nach 1989 auf
dem Ideal des Falls dieser Mauer aufgebaut wurde, sollte die historische
Bedeutung der aktuellen Grenzentscheidung außer Zweifel stehen.