Gisèle Pelicot ergreift noch mal das Wort | ABC-Z
Nach zehn Wochen Strafprozess ergreift Gisèle Pelicot am Dienstag zum letzten Mal das Wort im Gerichtssaal in Avignon. Die 72 Jahre alte Französin spricht von einem „Prozess der Feigheit“. Ihr damaliger Ehemann Dominique Pelicot hat sie jahrelang mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln sediert, um sie von fremden Männern im Ehebett vergewaltigen zu lassen, die er über das Internet angeworben hatte. 50 Männer im Alter zwischen 36 und 74 Jahren wurden durch die Auswertung der Videoaufzeichnungen Dominique Pelicots gefasst und müssen sich vor Gericht verantworten.
„Einige Angeklagte geben die Vergewaltigung zu“, sagt Pelicot, die 1952 in Deutschland geboren wurde, und fügt hinzu: „Aber für mich bleibt es schwer, mitanzuhören, dass es letztendlich eine große Banalität war, Gisèle Pelicot zu vergewaltigen.“ Der Gerichtssaal ist am Dienstag bis auf den letzten Platz gefüllt, das Interesse auch der internationalen Presse so groß, dass viele Journalisten nur die Übertragung verfolgen können.
Gisèle Pelicot: „Für mich ist es ein Prozess der Feigheit“
„Sie betraten das Zimmer und sahen einen leblosen Körper, eine bewusstlose Frau“, schildert Pelicot im Zeugenstand. „Wie kann man dieses Zimmer verlassen und nicht zur Polizei gehen?“, fragt sie. Keiner der Männer erstattete Anzeige oder gab der Polizei anonym einen Hinweis. Die kriminellen Machenschaften ihres Ex-Ehemannes flogen erst nach einer Hausdurchsuchung in Zusammenhang mit einem anderen Fall auf, bei der Polizisten auf die Videos stießen.
„Ich habe gehört, wie die Angeklagten sagten, sie seien ferngesteuert oder hätten unter Beruhigungsmitteln gestanden“, sagt sie. Diese Ausreden seien unerträglich. „Für mich ist dies ein Prozess der Feigheit“, urteilt die Frau, die möchte, dass ihr Leid zumindest einen gesellschaftlichen Wandel anstößt. „Es ist an der Zeit, dass sich diese machohafte, patriarchalische Gesellschaft ändert, die Vergewaltigungen banalisiert“, fordert Gisèle Pelicot. Der Blick auf Vergewaltigungen müsse sich wandeln.
Sohn nennt Dominique Pelicot den „Teufel in Person“
Am Montagnachmittag hatten erstmals ihre beiden Söhne, David und Florian, vor Gericht ausgesagt. Der 38 Jahre alte Florian Pelicot, der jüngste der drei Geschwister, bezeichnete seinen Vater als „den Teufel in Person“. „Unsere Mutter hat sich von einem Tag auf den anderen mit einem Koffer und ihrem Hund auf einem Bahnsteig wiedergefunden. Fünfzig Jahre Leben haben sich in nichts aufgelöst“, sagte Florian Pelicot. „Warum hast du unsere Mutter so behandelt? Du hast immer gesagt, dass Mutter eine Heilige sei. Aber wenn man deiner Argumentation folgt, dann bist du der Teufel in Person!“. Der jüngste Sohn zeigte sich fassungslos: „Was ist das für ein Erbe, das du uns hinterlässt?“ Er hoffe, dass Dominique Pelicot nicht mit seinen Geheimnissen ins Grab gehe – und dass dieser nicht sein leiblicher Vater sein möge. Vor Gericht gab er an, dass er einen Vaterschaftstest durchführen lassen wolle. Er sehe dem Angeklagten nicht ähnlich. „Es wäre eine Erleichterung, nicht der Sohn von Dominique Pelicot zu sein.“
Der 50 Jahre alte David Pelicot, der älteste Sohn des Paares, verglich den Anruf seiner Mutter am 2. November 2020 mit einer „Explosion, die unsere Familie vernichtet hat“. Er werde nie vergessen, wie seine Mutter ihm am Telefon schilderte, dass sein Vater sie jahrelang Unbekannten ausgeliefert und sie vergewaltigen lassen hatte. Er habe aufgelegt und sich übergeben müssen. Noch am selben Abend sei er mit seinen Geschwistern ins Auto gestiegen, um in den Süden, nach Mazan, zu fahren. Sie hätten am nächsten Tag begonnen, das Haus auszuräumen. „Alles, alles von diesem Mann musste verschwinden“, sagte David Pelicot im Zeugenstand.
„Ich habe einen Vater verloren, der mir eine gute Erziehung, Werte und ein Rückgrat gegeben hat.“ Er habe ihn nur als guten Familienvater erlebt. „Als ich herausfand, dass du heimlich unzählige Nacktfotos von meiner schwangeren Frau gemacht hast …“, der Sohn beendete den Satz nicht. Die Ermittler hatten Fotos der Schwiegertöchter auf dem Computer des Hauptangeklagten gefunden, die er mit einer versteckten Kamera im Badezimmer aufgenommen hatte. „Wie konntest du so etwas tun?“, fragte David Pelicot. „Wenn du noch einen Funken Menschlichkeit hast, dann sag die Wahrheit über das, was du meiner Schwester und deinem Enkel angetan hast!“ Bei dem Vornamen seines Enkels sprang Dominique Pelicot auf: „Nichts! Ich habe nichts getan!“
„Es ist der Prozess einer Familie, die völlig ausgelöscht wurde“
David Pelicot wandte sich zu seiner Schwester Caroline, die mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Bank saß. „Meine Schwester kämpft einen Kampf. Ich möchte ihr sagen, dass wir immer für sie da sein werden. Dieser Prozess ist nicht nur der Prozess von Gisèle Pelicot, sondern der einer ganzen Familie, die völlig ausgelöscht wurde“, sagte der älteste Sohn zum Vorsitzenden Richter gewandt. Er erwarte von dem Gericht Entscheidungen, die diesem Leid gerecht werden. „Ich hoffe, dass diese Männer, die hinter mir sitzen, und dieser Mann in der Box für die Schrecken, die sie meiner Mutter angetan haben, bestraft werden.“
Tochter Caroline Darian, die bereits am 6. September ausgesagt hatte und so mitgenommen war, dass sie sich in den vergangenen Wochen in einer Klinik behandeln ließ, bezeichnete sich am Montagnachmittag als „Vergessene in diesem Prozess“. Sie habe immerzu an ihre Mutter gedacht und sich selbst darüber vernachlässigt. Sie sei sich sicher, dass ihr Vater sie auch sediert habe. „Der einzige Unterschied zwischen Gisèle und mir sind die greifbaren und unerbittlichen Beweise“, sagte Caroline Darian. Die Ermittler hatten Fotos der Tochter in lasziver Stellung mit Reizwäsche gefunden, die ihr nicht gehörte. „Ich weiß, dass du mich mit inzestuösen Augen angesehen hast“, klagte sie an. „Du hast mich nie wie ein Vater angesehen.“ Dominique Pelicot sank in seinem Stuhl zusammen.
Von Mittwoch an werden die Plädoyers gehalten. Für Samstag haben mehr als 400 Vereine, Schauspielerinnen und Sängerinnen zu Demonstrationen gegen Frauengewalt in Paris, Bordeaux, Marseille und Lille aufgerufen.