Giorgia Meloni gewinnt an Macht: Europas Brückenbauerin | ABC-Z
Unter den „Großen“ in der EU ist kein Regierungschef so gut aufgestellt für das politische Jahr 2025 wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Das gilt für die Beziehungen zur EU unter der zweiten Kommission von Präsidentin Ursula von der Leyen wie für das Verhältnis zu den USA unter der zweiten Präsidentschaft Donald Trumps.
Mit Blick auf Brüssel und Straßburg hat Meloni eine Niederlage, ja Demütigung unmittelbar nach den Europawahlen vom Juni in einen Sieg umgewandelt – mit Zähigkeit und Verhandlungsgeschick. Erkennbar war ihr Zorn gewesen, nachdem sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der französische Präsident Emmanuel Macron – ungeachtet der Wahlniederlagen ihrer jeweiligen Parteienfamilien – ohne Italien und ohne die Wahlgewinnerin Meloni auf die „Top Jobs“ in der EU-Kommission geeinigt hatten. Die linke Opposition daheim, dazu Sozialdemokraten, Liberale und Grüne in verschiedenen EU-Staaten bejubelten seinerzeit die „Isolierung“ Melonis und die Stabilität der „Brandmauer“ zu Melonis rechtskonservativer Partei Brüder Italiens sowie zu deren Parteienfamilie der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR).
Ein halbes Jahr später sieht die Sache anders aus. Meloni hat ihren scheidenden Europaminister und Parteigenossen Raffaele Fitto als einen der sechs exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission mit dem Schlüsselportfolio für Kohäsion und Reformen durchgesetzt. Damit verfügt Italien in der Kommission über das politische Gewicht, das einem EU-Gründungsmitglied und der drittgrößten Volkswirtschaft der Union zusteht – nicht nur nach Ansicht Melonis. Meloni hat ihre Position in der EU und als Führungsfigur der „Neuen Rechten“ in Europa gefestigt. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sie demnächst den Vorsitz in der EKR ablegt, nach mehr als vier Jahren Amtszeit.
Meloni hat Webers „Dreipunkte-Test“ bestanden
Eine vergleichbare Rolle wie Meloni persönlich spielt die EKR im Europaparlament, nicht zuletzt dank Nicola Procaccini, Ko-Vorsitzender der Fraktion und ein weiterer enger Vertrauter Melonis. Die EKR ist die politische Kraft der Öffnung der „Ursula-Koalition“ (aus Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und auch Grünen) hin zu den neuen rechten Parteien Europas. Anders als Viktor Orbán, Melonis Verbündeter der ersten Stunde, hat Meloni nicht den Weg der ideologischen Konfrontation, sondern des pragmatischen Kompromisses gewählt. Zu Kommissionspräsidentin von der Leyen (CDU) und zu Manfred Weber, dem Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), pflegt Meloni enge persönliche Beziehungen.
Meloni hat Webers „Dreipunkte-Test“ für eine Zusammenarbeit mit der EVP bestanden: Sie ist „pro Europa, pro Ukraine und pro Rechtsstaat“. Damit steht Meloni, gestützt durch eine stabile Koalition und konstant hohe Zustimmungswerte daheim, auf der Seite der beiden großen christdemokratischen Sieger der Europawahlen vom Juni, die der Arbeit der Kommission in Brüssel und des Parlaments in Straßburg in den kommenden fünf Jahren ihren Stempel aufdrücken werden.
Als eine Art Extrabonus hat Brüssel soeben grünes Licht für die Auszahlung der sechsten Rate aus dem postpandemischen EU-Wiederaufbaufonds in Höhe von 8,7 Milliarden Euro an Rom gegeben. Italien erhält den mit Abstand größten Teil aus dem EU-Wiederaufbaufonds, fast zwei Drittel der knapp 195 Milliarden Euro. Die Zustimmung Brüssels zur sechsten Rate, die bis Jahresende überwiesen werden soll, ist so etwas wie das Abschiedsgeschenk des scheidenden italienischen Europaministers Fitto an seine Mentorin Meloni, dessen Kompetenz in Italien und in der EU weithin anerkannt ist.
Meloni unterhält gute Beziehungen zu Trump
Auch zum künftigen amerikanischen Präsidenten unterhält Meloni seit Langem gute Beziehungen. Mehrfach ist sie bei der Conservative Political Action Conference (CPAC) in den USA aufgetreten, neben und mit Donald Trump – zu Zeiten, als beide so etwas wie geächtete Oppositionspolitiker waren. Dass Meloni und Trump ein jeweils überraschender (Wieder-)Aufstieg ins höchste politische Amt gelungen ist, dürfte die einstigen Außenseiter zusätzlich zusammenschweißen. Zudem sind die beiden natürliche Partner, die sich als Vertreter der „kleinen Leute“ und als Gegner eines linken Establishments in Politik und Medien gerieren.
In der Migrationspolitik vertreten beide harte Positionen, was ihren Aufstieg an die Regierungsspitze wesentlich begünstigte. In der Klimapolitik wollen Trump und Meloni eine abrupte beziehungsweise graduelle Abkehr von internationalen respektive europäischen Verpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen, weil diese vermeintlich die heimische Wirtschaft schwächen.
Aus dem chinesischen Seidenstraßen-Projekt, in welches sich Italien unter Regierungschef Giuseppe Conte hatte hineinziehen lassen, hat sich Rom unter Meloni wieder zurückgezogen – sehr zur Freude Washingtons und namentlich Trumps. Als verlässlicher Partner an der Südflanke der NATO und als Tor zu Afrika kann Italien als Pfeiler einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft in dem Maße an Gewicht gewinnen, wie Frankreich und Deutschland durch innere Instabilität abgelenkt sind.
Melonis diplomatisches Talent weiterhin gefordert
Rom verfügt in Firmen wie Leonardo und Fincantieri über international wettbewerbsfähige Rüstungsunternehmen, die auch in den USA tätig sind. Die von Meloni zugesagte Aufstockung der Verteidigungsausgaben von derzeit 1,6 Prozent auf die NATO-Zielmarge von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes kann Rom zwar nicht allein durch zusätzliche staatliche Investitionen in die genannten Unternehmen erreichen. Aber ein entsprechender Wachstumsimpuls könnte weiteres privates Kapital anziehen, der italienischen Volkswirtschaft insgesamt einen Schub geben und die Position Italiens in der NATO und gegenüber dem Partner USA stärken.
Gerade unmittelbar nach Trumps Amtsantritt am 20. Januar, wenn die amerikanischen Zölle für Einfuhren aus Asien, aber auch aus Europa greifen, können allenfalls Meloni und von der Leyen ihre Stimme für Washington hörbar erheben, um einen Handelskrieg zwischen Europa und Amerika abzuwenden. Denn in Berlin und Paris werden zu diesem Zeitpunkt „lahme Enten“ die Regierungsgeschäfte führen, deren Kräfte durch Wahlkampagnen und politischen Überlebenskampf gebunden sind.
In der jüngeren Vergangenheit hat es Meloni als Brückenbauerin zwischen Budapest und Brüssel vermocht, dass die Unterstützung der EU für die Ukraine nicht durch ein mögliches Veto Ungarns geschwächt oder gar ausgesetzt wurde. Ihr diplomatisches Talent könnte auch gefordert sein, um eine gemeinsame Position der transatlantischen Partner in der Konfrontation mit Russland und mit China zu gewährleisten.
Innenpolitisch kann Meloni kaum von ihrer außenpolitischen Statur profitieren
Unter Meloni blieb Italien unverbrüchlich an der Seite der Ukraine. Dass Meloni zugleich ihr gutes Verhältnis zum ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán pflegte, der seit Langem auf eine Waffenruhe und auf Verhandlungen mit Moskau drängt, und zudem das Vertrauen von Donald Trump genießt, der seinerseits ein Ende des Krieges in der Ukraine gleich nach seinem Amtsantritt zu erreichen verspricht, könnte ihr politisches Kapital als mögliche Mittlerin in der derzeit wichtigsten Sicherheitsfrage Europas weiter stärken.
In der Innenpolitik kann Meloni bisher kaum von ihrer gewachsenen außenpolitischen Statur profitieren. Die Justiz-, die Verwaltungs- und die Verfassungsreform sind ins Stocken geraten. Ihrem „Modell Albanien“ zur Errichtung exterritorialer Aufnahme- und Abschiebelager für illegale Migranten droht im Streit mit der italienischen und europäischen Justiz sogar das vollständige Scheitern. Meloni will an den Vorhaben festhalten. Wenn sie auch in der heimischen Politik erfolgreich bleiben will, muss sie dort so zäh und pragmatisch handeln wie auf dem internationalen Parkett.