Gigantischer Steuerbetrug: Banken sollen bald Beweise für Cum-Cum-Deals schreddern dürfen | ABC-Z
Bis zu 28,5 Milliarden Euro raubten Banken mit illegalen Steuertricks aus der Staatskasse. Nicht nur hat Finanzminister Lindner bisher kaum etwas von dem Geld zurückgeholt. Nun dürfen die Täter womöglich bald die Belege für ihre Verbrechen vernichten – ganz legal.
Wenn sich am Donnerstag um 9 Uhr die Türen zum Plenarsaal des Bundestags zur Debatte öffnen, geht es auf den ersten Blick um ein kaum umstrittenes Thema. Mit dem 4. Bürokratieentlastungsgesetz will die Ampel-Koalition Unternehmen von unnötigen Regeln befreien. Rund 950 Millionen Euro jährlich lassen sich laut dem Gesetzentwurf von FDP-Justizminister Marco Buschmann einsparen. Doch im Kleingedruckten des Entwurfs steckt politischer Sprengstoff, der die Aufarbeitung des größten Steuerskandals aller Zeiten so gut wie unmöglich machen könnte.
Denn mit dem Gesetz will die Regierung nicht nur etwa die Meldepflicht für Deutsche bei Übernachtungen im Hotel abschaffen, Reisepässe am Flughafen digital auslesen oder Beschlüsse in Vereinen künftig per E-Mail erlauben – sondern auch die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege und Rechnungen pauschal von zehn auf acht Jahre verkürzen. Was oberflächlich wie die gut gemeinte Abschaffung von lästigem Papierkram aussieht, könnte zur staatlichen Beihilfe für Betrüger mutieren, die den Steuerzahler über Jahre systematisch ausgeplündert haben.
Denn auf den Servern und in den Aktenregalen deutscher Banken, Sparkassen und Fonds schlummern dank der jahrelangen Untätigkeit der Justiz bis heute Millionen unentdeckter Dokumente, die die Verwicklung der Finanzriesen in betrügerische Aktiendeals in Milliardenhöhe belegen. Die Unterlagen seien wichtige Beweismittel für kommende Strafverfahren, warnt Anne Brorhilker, Ex-Staatsanwältin und Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende, die deshalb eine Petition gegen das Gesetz gestartet hat. “Die Täter wissen sehr genau, welchen juristischen Sprengstoff sie in ihren Kellern haben”, schlägt Brorhilker Alarm. “Sobald das Gesetz in Kraft ist, werfen die ihre Schredder an.”
Schredderpläne für die Logbücher des Steuerraubs
Es geht um nichts weniger als den größten Steuerskandal aller Zeiten: Bei sogenannten Cum-Ex-Deals konnten sich Banken im Aktienhandel dank Gesetzeslücken die Kapitalertragsteuer, die nur einmal gezahlt wurde, mehrfach vom Finanzamt erstatten lassen. Das funktionierte, weil die Papiere über Leerverkäufe mit (cum) Dividende vor dem Ausschüttungstag gekauft, aber erst nach dem Ausschüttungstag ohne (ex) Dividende geliefert wurden.
Ein Heer von Bankern, Beratern und Anwälten strickte ein Geschäftsmodell aus dem Schlupfloch. Gestopft wurde es erst 2012. Bis dahin handelten mehr als 100 Banken aus aller Welt am Dividendenstichtag Aktien im Kreis und griffen dabei schamlos in die Staatskasse. Bis zu 12 Milliarden Euro sollen dem Fiskus so nach Schätzungen verloren gegangen sein.
Inzwischen sitzen einge der Drahtzieher der Geschäfte im Gefängnis – etwa der ehemalige Finanzbeamte und Erfinder der Cum-Ex-Masche Hanno Berger oder der Top-Jurist Ulf Johannemann von der Kanzlei Freshfields. In mehr als hundert Strafverfahren wird gegen tausende Beteiligte ermittelt.
Keine Cum-Cum-Anklage
In den Kinderschuhen steckt dagegen die juristische Aufarbeitung des zweiten, noch viel größeren Teils dieses organisierten Raubzugs der Finanzwirtschaft durch die Staatskasse. Die sogenannten Cum-Cum-Geschäfte sind gewissermaßen der große Bruder der Cum-Ex-Deals: Hier geht es darum, sich Steuern erstatten zu lassen, auf die die Besitzer der Papiere nie irgendeinen Anspruch hatten. Dazu wurden Aktien aus dem Ausland kurz vor dem Dividendenstichtag auf dem Papier an deutsche Banken übertragen. Denn anders als etwa US-Rentenkassen dürfen sich die deutschen Geldhäuser im Inland die auf die Dividende gezahlte Kapitalertragsteuer vom Finanzamt erstatten lassen.
Folglich entwickelten findige Finanzfachleute auch hier einen Kreislauf, der sich wieder für alle Beteiligten lohnte: Die Fondsmanager aus dem Ausland schickten alle Jahre wieder Milliarden Aktien zum Stichtag auf “dividend holiday” nach Deutschland. Die hiesigen Geldhäuser kassierten für die Papiere, die ihnen nie gehörten, die Erstattung vom Finanzamt und transferierten die Aktien danach sofort wieder an ihre eigentlichen Besitzer im Ausland zurück. Den Gewinn teilten sich beide. Und der deutsche Steuerzahler hatte das Nachsehen.
Schätzungen zufolge kosteten diese Cum-Cum-Deals den Fiskus über die Jahre sogar noch mehr als die Cum-Ex-Geschäfte: bis zu 28,5 Milliarden Euro. Schon 2015 hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass die Steuertricks illegal sind. Trotzdem haben die Finanzverwaltungen bis heute nur wenige hundert Millionen Euro der Cum-Cum-Gelder von den Banken zurückgeholt. Bisher gibt es keine einzige Anklage. Und nun sollen die Geldhäuser mit den Buchungsbelegen gewissermaßen die Logbücher ihrer Raubzüge durch die Staatskasse auch noch frühzeitig schreddern dürfen.
“Die Großen lässt man laufen”
Nach Informationen von Finanzwende kommt der Passus zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen im Bürokratieentlastungsgesetz aus dem Ministerium des FDP-Finanzministers. “Nach dem Nullengagement von Christian Lindner bei Cum-Cum gibt’s jetzt auch noch den Knüppel zwischen die Beine der Ermittler”, kritisiert deshalb Finanzwende-Gründer und Ex-Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick. “Obwohl die Regierung händeringend Milliarden für den Haushalt braucht, kommt Finanzminister Lindner nicht auf die Idee, sie dort zu suchen, wo man sie als erstes eintreiben sollte: kriminellen Aktivitäten, bei denen der Staat einen Rückforderungsanspruch in Milliardenhöhe haben dürfte.”
Laut Brorhilker waren nicht nur Großbanken, sondern regelmäßig auch sehr viele kleine Fonds, Sparkassen und Regionalbanken an den Cum-Cum-Deals beteiligt. Sie alle zittern nun, was Steuerfahnder und Staatsanwälte in ihren Archiven womöglich noch finden werden. Doch wenn die Unterlagen erst einmal weg sind, enden die Ermittlungen schon, bevor sie überhaupt begonnen haben. “Bei Cum-Cum kennen wir bisher nur die Spitze des Eisbergs”, moniert Brorhilker. “Wenn das Gesetz so durchkommt, werden sehr viele Cum-Cum-Täter ungeschoren davonkommen, Milliarden an Steuergeldern sind dann unwiderruflich verloren.”
Brorhilker muss es wissen: Bis April war sie selbst bei der Staatsanwaltschaft Köln Chef-Ermittlerin für die Aufklärung der Cum-Ex-Steuerverbrechen und hat auch in Cum-Cum-Fällen ermittelt. Sie schmiss aus Frust über die “schwach aufgestellte Justiz”, die “die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt”, ihren Job hin und wechselte zur Bürgerbewegung Finanzwende.
Die düstere Prophezeiung der Ermittlerin scheint sich nun zu bewahrheiten. FDP-Justizminister Marco Buschmann räumt selbst ein, dass dem Staat jede Menge Geld verloren geht, wenn die Buchungsbelege nicht mehr rechtzeitig geprüft werden können. Durch die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen von zehn auf acht Jahre werde jährlich „ein Steuerausfall in einer Größenordnung von 200 Millionen Euro erwartet“, heißt es in der Begründung zum Gesetzesentwurf lapidar. Angesichts des Umfangs der Steuerverbrechen dürfte das eine kapitale Untertreibung sein.
Zwar soll es wegen der bislang schleppenden Aufklärung der Steuerverbrechen für Banken eine Ausnahme geben und die neue Frist im Finanzsektor erst ein Jahr später gelten. Doch wird das Gesetz in dieser Woche verabschiedet und stimmt auch der Bundesrat am 18. Oktober zu, tickt die Uhr: Faktisch hätten Finanzbeamte und Ermittler dann nur noch ein Jahr Zeit aufzudecken, wer am größten Steuerraub der deutschen Geschichte beteiligt war. Ein Rennen, das die überlasteten und unterbesetzten Behörden nicht gewinnen könnten, sagt Brorhilker. Es sei völlig unrealistisch, dass sie in einem Jahr aufklärten, was sie vorher ein Jahrzehnt lang versäumt hätten.
Dabei ging die Reise vor den Schredder-Plänen eigentlich in die richtige Richtung. Um die Strafverfolgung zu erleichtern, hatte die Regierung Merkel erst Anfang 2021 die Verjährungsfrist für schwere Steuerverbrechen wie Cum-Ex- und Cum-Cum-Deals extra von 10 auf 15 Jahre angehoben. Die Ampel-Koalition droht das nun zu konterkarieren. “Es ist ohnehin unsinnig, dass die Aufbewahrungsfristen kürzer sind als die Verjährungsfristen”, sagt Brorhilker. “Diese Fristen nun auch noch zu verkürzen, ist vollkommen absurd.”