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Gewaltige Probleme: Deutschland ist so krank und lustlos wie nie – und das ist nur ein Teil des Problems | ABC-Z

Die Debatte um Karenztage und angeblich unmotivierte Mitarbeiter verdeckt den Blick auf die wirklichen Probleme des Landes. Und die sind gewaltig.

Was die Diagnose betrifft, sind sich im Grunde alle einig. Deutschland geht es mies. Die Wirtschaft keucht, die Produktivität sinkt, die einstigen Schlüsselindustrien, wie etwa die Automobilbranche, geraten zunehmend in Not.

Wie genau aber die passende Therapie aussehen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Oliver Bäte etwa, Chef der Allianz-Gruppe, hat nun im „Handelsblatt“ angeregt, eine längst eingemottete Maßnahme wieder auszupacken: den Karenztag.

Allianz-Chef: Deutschland ist Weltmeister bei Krankmeldungen

Bei dieser Reglung, in den 70er Jahren abgeschafft, müssen Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen. Damit will Bäte dem historisch hohen Krankenstand in deutschen Unternehmen entgegenwirken. 

Deutschland sei mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen, begründete er seinen Vorstoß, das werde zunehmend zur Belastung für die Wirtschaft.

So ehrenrührig dieser Vorschlag auf den ersten Blick auch wirken mag, es wäre falsch, ihn einfach abzutun. Denn Bäte hat einen Punkt. Tatsächlich ist der Krankenstand in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsen, zwischen Januar und November 2024 lag er laut einer Studie der Techniker Krankenkasse im Schnitt bei 17,7 Tagen pro Arbeitnehmer. 

Fast zehn Tage mehr als im EU-Durchschnitt. 2019 waren es noch gut drei Fehltage weniger.

77 Milliarden Euro Lohnfortzahlung für krankes Personal

Die Kosten dafür sind immens: Laut Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gaben deutsche Unternehmen 2023 fast 77 Milliarden Euro für die Lohnfortzahlung erkrankter Mitarbeiter aus. Gegenüber 2010 ist das ein Anstieg um mehr als das Doppelte.

Sind die Deutschen also einfach faul geworden? Möglich. Jedenfalls ist es für eine Volkswirtschaft, die sich einstmals, so zumindest die Erzählung, über Fleiß und Produktivität definiert hat, ein verheerendes Signal, nun den Rekord für die meisten Krankschreibungen zu halten.

Der frühere Exportweltmeister, das muss man so deutlich sagen, ist zum Dauerpatienten geworden.

Deutschland leidet an drei Strukturproblemen: Bürokratie, Infrastruktur, Investitionen

Dennoch greift der Ansatz, man müsse nur die Daumenschrauben ein wenig fester anziehen und alles werde schon gut, zu kurz. Denn die Ursache der wirtschaftlichen Stagnation, daran muss man womöglich noch einmal erinnern, liegt nicht etwa in Deutschlands vermeintlich arbeitsscheuen Einwohnern. Vielmehr leidet das Land in der Struktur.

Für diese Einsicht genügt ein Blick auf drei Punkte: Bürokratie, Infrastruktur, Investitionen. Laut einer Erhebung des ifo-Instituts kostet überflüssige Bürokratie das Land jedes Jahr 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung – also in etwa doppelt so viel wie die Lohnfortzahlung.

In der Infrastruktur klafft eine Investitionslücke von rund 600 Milliarden Euro – mit denen nur das Gröbste gemacht werden könnte. Rund 80 Prozent aller deutschen Unternehmen fühlen sich laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft zudem durch Infrastrukturmängel benachteiligt.

Investitionen in Deutschland gehen seit 2018 zurück

Beide Faktoren führen dazu, dass die Investitionen der deutschen und ausländischen Unternehmen in den Wirtschaftsstandort seit 2018 stetig zurückgegangen sind. Denn wer will schon Geld in etwas stecken, das augenscheinlich auf einem wackligen Fundament steht? Und an diesem Fundament werden auch ein paar Menschen, die sich krank zur Arbeit schleppen, nichts ändern.

Vielmehr taugt der Vorschlag eines Karenztages dazu, Deutschlands Probleme noch zu verschlimmern. Denn wer sich gezwungen fühlt, krank zur Arbeit zu gehen, wird am Ende in vielen Fällen noch kränker sein – und damit höhere Kosten verursachen.

23 Prozent der Deutschen haben keine Lust – weltweiter Spitzenwert

Und letztlich handelt es sich bei der Zufriedenheit bei der Arbeit nicht um die Erfindung einer blumigen Arbeitsgemeinschaft – sondern um eine harte Währung. 66 Prozent der Deutschen gaben 2023 an, dass ihre individuelle Arbeitsbelastung zugenommen habe. 23 Prozent sagten gleichzeitig aus, bei der Arbeit unmotiviert zu sein – weltweiter Spitzenwert.

Das hat wirtschaftliche Folgen: Ein Unternehmen mit 10.000 Angestellten hat durch die Demotivation Mehrkosten von mehr als 48 Millionen Euro pro Jahr. Jeder Arbeitgeber sollte sich fragen, welchen Anteil er daran hat.

Über den Autor: Dennis Pohl ist Reporter beim Tagesspiegel im Hauptstadtbüro und Verfechter der Devise: Krank ist krank.

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