Georg Nigls Nachtmusiken bei den Salzburger Festspielen | ABC-Z
Die Grundidee der „Nachtmusiken“, die Georg Nigl bei den Salzburger Festspielen in diesem Jahr zum zweiten Mal arrangiert hat, an drei Abenden in den letzten zwei Stunden vor Mitternacht in einem schmalen Saal der Edmundsburg im Mönchsberg hoch über dem Festspielbezirk, ist der Wechsel zwischen musikalischem und gesprochenem Vortrag. Der Wiener Bariton teilt sich das Programm mit einem Schauspieler, im vorigen Jahr Ulrich Noethen, diesmal August Diehl. Dritter im Bunde ist Alexander Gergelyfi am Clavichord. Mit diesem Tasteninstrument arbeiteten die Komponisten um 1800, sowohl bei der Ausführung ihrer Werke als auch bei deren Aufführung im Rahmen häuslicher Konzerte.
Für unser vom Konzertflügel geprägtes Hörempfinden ist das Clavichord sehr leise. Das Ohr muss sich auf seinen Klang einstellen. Die von Gergelyfi produzierten Töne steigen uns buchstäblich ins Bewusstsein, und wir hören die Produktionsbedingungen mit: Da das Ganze so ungewohnt klingt, fällt uns das Betriebsgeräusch des kleinen Kastens auf, etwas zwischen Scharren und Scheppern, von dem wir zu abstrahieren lernen. Nur achtzig Hörer sind zugelassen. Alles ist auf Konzentration eingestellt; eine Intimität entsteht, die im großen Konzertsaal bloß nachgebildet wird.
Nigl muss keinen Abstand zum Publikum überbrücken und pflegt einen Vortragsstil, den er selbst als rezitativischen Gesang charakterisiert. Dass alles leiser angelegt ist, fördert die Nuancierung, die beiläufige Markierung von Unterschieden. In zwangloser Ansprache der Zuhörer nähert sich Nigls Duktus stellenweise der Anmutung freier Rede, einzelne Verse gewinnen aphoristische Selbständigkeit. Umgekehrt meint man, weil in derselben Unmittelbarkeit die mit den Liedern abwechselnden Texte zu Gehör gebracht werden, Gedichte, Romanauszüge oder Briefe, an Diehls Rezitation Momente des Gesanglichen zu bemerken, über Variationen von Tonhöhe, Lautstärke und Tempo hinaus auch so etwas wie Tonartwechsel und Stimmfärbungen. Der Modus der Mitteilung öffnet sich, jenseits der Informationen kommen Stimmungen und Ahnungen ins Spiel. Diese Momente wirken nicht gesucht, weil Diehls Gestus ganz unaffektiert ist. Er muss scharfe Augen haben, denn der Notenständer mit den Blättern, von denen er abliest (Sprecher und Sänger verrichten wie der Clavichordspieler ihre Arbeit im Sitzen), steht in einiger Entfernung vor ihm.
Das Lied ist länger als sein Text
Der Titel Nachtmusik verspricht Grenzerkundung und Sphärenmischung. Wenn sich in diesem experimentellen Konzertformat Lesung und Gesangsdarbietung einander annähern, wie unterscheiden sich Gesungenes und Gesprochenes dann noch? Nur im Gesang gibt es die Verdopplung und vervielfältigende Wiederholung einzelner Silben, die ohne Musik als Sprachfehler eingeordnet würde. Die Monade des Wortes, die Einheit von Zeichen und Bezeichnetem, wird aufgesprengt im Dienst einer Emanzipation des Lautlichen. Semantik wird nivelliert im musikalischen Fluss – wenn nicht genau umgekehrt die Entwicklung angehalten und das einzelne Wort herausgehoben wird. In verschiedenen Formen findet dieses Kunstmittel der Gesangskomposition in den Eröffnungsstücken aller drei Abende Verwendung.
Der dritte ist Franz Schubert gewidmet und beginnt mit einem der beliebtesten Lieder, „Seligkeit“ (D 433). „Freuden sonder Zahl / blühn im Himmelssaal“: Durch die vielen Silbenwiederholungen wird das Lied sozusagen länger als sein Text. Während die Wörter auf der Stelle treten, ist die Melodie schon weiter. Seligkeit ist hier die Heiterkeit des Reigens, in den die Zuhörer hineingezogen werden. Der Fluss besteht aus überspielten Stockungen. Nigl übersetzt das sozusagen bloß notierte Stottern in den Rhythmus, macht die Kreisbewegung dadurch spürbar, dass er in den Wendemomenten innehält und beschleunigt. Was auf dem Programmzettel denkbar konventionell aussieht, leitet einen höchst ungewöhnlichen Schubert-Abend ein. Die Geselligkeit des Himmelsreigenliedes scheint so sehr gesteigert, dass man Anlass zu der Frage hat, welche Energien in diesen Hymnus an die Freuden geflossen sind.
Von Wanderschaft sprechen die von Diehl verlesenen Texte, vom Auszug aus der Heimat und vom Verlust der seit Kindertagen naturgegebenen Sprache, aber nicht metaphorisch in der Art des romantischen Liedguts, sondern wörtlich. Es sind Dokumente des intellektuellen Exils aus dem Jahr 1933 und der Folgezeit. Nigl möchte zu verstehen geben, dass man sich die Schubertiaden, die Zusammenkünfte, bei denen der Komponist und seine Gelegenheitsdichterfreunde jüngste Gemeinschaftswerke zum Besten gaben, nicht als harmlose Junggesellenabende vorstellen darf. Dort kamen die inneren Emigranten der Restaurationszeit zusammen, und der feindlich lauschende Verräter aus dem „Ständchen“ des „Schwanengesangs“, das Nigl mit Ernst Tollers „Offenem Brief an Herrn Goebbels“ kombiniert, war im Zweifel ein Spitzel im Sold des Staatskanzlers Metternich.
Die Vertonung von vier Versen aus Psalm 3 durch Heinrich Schütz steht am Anfang des ersten Abends, dessen Zusammenstellung Nigl aus dem Vorjahr übernommen hat: „Ich liege und schlafe und erwache“. Anhand von Schilderungen aus den Weltkriegen bis hinein in die ukrainische Gegenwart können die Zuhörer die Probe machen, wie neben diesen Zeugnissen des Schrecklichsten die von Schütz und Bach in Töne gesetzte christliche Erlösungsbotschaft besteht, mit ihrer beschaulichen Überblendung von Tod und Schlaf und ihrer Verheißung der Auferstehung, für die Schütz mit der aufsteigenden Tonfolge zur Beschreibung des Aufwachens eine rührend einfache Formel findet.
Gottes sadistische Zahnbehandlung
Das kurze Stück verarbeitet aber auch die Tatsache, dass der Erfahrungsschatz des Volkes Israel, aus dem die Christen die Bilder ihrer Hoffnung schöpften, die Erinnerung an völkermörderische Kriege einschließt, wie sie auch Botho Strauß in seinem in Salzburg in einer Leseaufführung vorgestellten Stück „Saul“ zur Sprache bringt. Gott zerschmettert in der Vision Davids „der Gottlosen Zähne“, und diese sadistische Behandlung malt Nigl höhnisch aus, indem er dem säkular entspannten Festivalpublikum durch Einhämmern des schier endlos wiederholten Äh-Lauts auf den Zahn fühlt.
„Das Kinderspiel“ (KV 598), ein Lied aus Mozarts letztem Lebensjahr, ist in Nigls Interpretation keines: Erwachsene stellen sich die kindliche Freude als Behagen in der Nachahmung vor und verfallen deshalb ins Lallen. Im Kontrast zu diesem Schematismus liefern Zeugnisse von Familienmitgliedern und Arbeitsgefährten Mozarts Stoff, um das Kind als Genie zu beschreiben und umgekehrt, etwa wegen der ungesteuerten Motorik: Laut seiner Schwägerin spielte er „immer mit etwas“, Stuhl oder Tuch oder Hut, „gleichsam Klavier“.
Musikstücke und Literaturbeiträge der Nachtmusiken stehen nicht im Verhältnis beflissener Illustration. Oft hat vielleicht ein Stichwort die Anregung zur Verknüpfung geboten, wenn etwa auf Jean Genets sarkastische Anrufung der über die Gesetze wachenden Götter in seinem Bericht aus Hitlerdeutschland als dem Land der Diebe das „Lied eines Schiffers an die Dioskuren“ (D 360) folgt. Mit der Zeit hört man auf die Motive, die für eine Kunstlehre des Vortrags Stoff und Bilder liefern, vom Atem bis zum Schritt. Man staunt angesichts der Mosaiken der drei Programme über die Kühnheit im Einzelnen und die Stimmigkeit des Ganzen.
Die Erzeugung von Ungleichheiten
Selma Meerbaum-Eisinger, die Cousine Paul Celans, die 1942 mit achtzehn Jahren im Zwangsarbeitslager starb, fordert den Leser des handgeschriebenen Albums mit ihrem Gesamtwerk von 57 Gedichten auf: „Sieh nur die Straße, wie sie steigt: so breit und hell, als warte sie auf mich.“ Was vor der Dichterin liegt, hat die Form eines im Fluchtpunkt tröstlich zum Abschluss kommenden Gedichts oder Liedes. Den Kontrast zu dieser Vision des Einswerdens von Ich und Welt bildet das Protokoll der Dissoziation aus der „Sentimentalen Reise“, Viktor Schklowskis Bericht aus seiner Arbeit als Kommissar im russischen Bürgerkrieg: „Und die Straße ging immer weiter, endlos wie der Krieg. Im Krieg führen ja alle Straßen ins Nichts.“
Walter Benjamin zitierte in seiner Rezension 1928 eine kunsttheoretische Stelle aus dem Reisebericht Schklowskis, des Begründers der russischen Schule des Formalismus: „In ihrem Ursprung ist die Kunst destruktiv und ironisch. Ihr Ziel ist die Erzeugung von Ungleichheiten. Dahin gelangt sie mittels des Vergleichs.“ So fängt Georg Nigl mit der Hilfe von August Diehl und Alexander Gergelyfi noch einmal an mit seiner Kunst. Mittels des Vergleichs bringt die Kunst laut Schklowski aber auch etwas Konstruktives zustande. „Durch die Kanonisierung subalterner Formen erschafft sie sich neue.“ So gehe Puschkin vom Poesiealbum aus – man könnte ergänzen: und Schubert vom Gassenhauer, Mozart vom Kinderreim und Schütz vom Kehrvers.
Freiheit zur Legendenbildung nehmen Nigl und Diehl sich heraus, wenn sie den von Ludwig Berger überlieferten Bericht Muzio Clementis über seine Begegnung mit Mozart ins Mündliche zurückübersetzen: Er habe „noch nie jemand so intelligent und anmutig“ von Musik „sprechen hören“ – mit „vortragen“ ist im Zitat bei Berger indes Mozarts Klavierspiel gemeint. Gergelyfi trägt die Ouvertüre zur „Zauberflöte“ an dem Clavichord aus der Sammlung des Mozarteums vor, an dem Mozart die Oper komponierte: Intelligent zerlegt er den himmelstürmenden Ohrwurm, um anmutig den leisesten Höllenlärm zu entfesseln.