Was dem DFB-Kapitän noch fehlt | ABC-Z

In Herzogenaurach betrat am Montag Joshua Walter Kimmich die Bühne. Im Medienzentrum der Nationalmannschaft war der Kapitän aus einem besonderen Anlass zu Gast. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, wird Kimmich am Mittwoch im Halbfinale der Nations League gegen Portugal in München (21 Uhr, ZDF und DAZN live) sein 100. Länderspiel absolvieren. Eine stolze Zahl, über die ein stolzer Kimmich sagte: „Tatsächlich bedeutet das sehr viel für mich. Es ist schon eine große Ehre, so viele Spiele für Deutschland gemacht zu haben. Das zeigt natürlich, dass man die letzten neun oder zehn Jahre auf einem ganz guten Niveau unterwegs war.“
In Herzogenaurach betrat vor mehr als einem halben Jahrhundert auch ein gewisser Lothar Herbert Matthäus die Fußballbühne, wenngleich es da noch eine ziemlich kleine war. Mit neun Jahren begann Matthäus, geboren 1961 in Erlangen, seine Karriere als Jugendspieler beim 1. FC Herzogenaurach. Der Rest ist deutsche Fußballgeschichte: Matthäus wurde mit dem Nationalteam Weltmeister 1990 und stellte später die bis heute unerreichte Marke von 150 Länderspielen auf, der später Miroslav Klose (137), Thomas Müller (131) noch am nächsten kamen.
Was das eine mit dem anderen zu tun hat?
Der Subtext seiner Karriere
Es erzählt eine ganze Menge über Kimmich, was er in dieser Hinsicht gerade dem „Kicker“ erzählte. Nämlich, dass er Matthäus‘ Marke von 150 Spielen schon als Jung-Nationalspieler ins Visier genommen hatte: „Es gab ganz früh eine Phase, in der ich unter Jogi Löw sehr viele Spiele in Folge machen durfte, da habe ich mir mal dieses Ziel gesetzt.“ Rekordnationalspieler werden – das ist eine Ambition, die man erst einmal für sich formulieren muss. Und wenn Kimmich, der im Mai 2016 beim EM-Test gegen die Slowakei debütiert hatte, nicht zwischenzeitlich ein paar Spiele verpasst hätte, wäre er diesem Ziel schon ein bisschen näher.
Worum es in Kimmichs Karriere aber noch mehr geht als um ein paar fehlende Länderspiele, ist etwas anderes, das ihm fehlt. Am Montag wurde er darauf hingewiesen, dass er im Hunderter-Klub des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) Mitglied Nummer 14 wäre – aber das einzige ohne großen Titel. Es ist gewissermaßen der Subtext seiner Karriere.
Und weil Kimmich in diesem Zusammenhang sagte, er habe „viele Tiefen und Höhen mit dem DFB-Team erlebt“, und nicht etwa andersherum, Höhen und Tiefen, sagte das eine ganze Menge über seine Sicht auf die Jahre in der Nationalmannschaft. Auch, als er sich an Schlüsselmomente erinnern sollte, waren es: zwei Niederlagen und ein Sieg. Die verlorenen Halbfinals bei der EM im vergangenen Jahr und 2016 bei der EM in Frankreich, seinem ersten Turnier, seien „verpasste Chancen“ gewesen. Der positive Moment: das gewonnene Finale im Confed Cup 2017 gegen Chile.
Es ist nicht so, dass diese Jagd nach einem Titel eine Obsession für den 30 Jahre alten Kimmich wäre. Aber wichtig – das wäre es ihm schon. In diesem Kontext steht für ihn auch das Final Four der Nations League. Da gibt es zwar nur einen vergleichsweise kleinen Titel zu gewinnen, aber einen, der möglichst eine große Wirkung entfalten soll. „Es wäre für uns als Mannschaft wichtig in unserem Prozess und in unserer Entwicklung“, sagte er, für das „Selbstverständnis“, die großen Nationen schlagen zu können. Ein Titelchen zum Zweck, gewissermaßen.
Kimmich selbst macht keinen verbissenen Eindruck, wenn er darüber spricht. Er möchte ohnehin nicht mehr so sehr als Kimmich, der Grimmige, wahrgenommen werden, als der er oft abgebildet wird – die Schattenseite seines Images als Mister Ehrgeiz. Sondern eher als einer, der auch viel lacht und kommuniziert. Als Julian Nagelsmann am Freitag über ihn sprach, hob der Bundestrainer diese Seite hervor. „Als Kapitän ist er herausragend gut. Nicht nur auf dem Platz mit seiner Vorbildfunktion, alles reinzuwerfen, sondern auch mit dem, was man nicht so sieht, wie er mit dem Staff umgeht“. Da zeige er seine Wertschätzung auch mit kleinen Prämien und Geschenken. Kimmich, der Kümmerer.
Und damit noch einmal zurück zum Anfang – und zu Matthäus. Als der im März über Kimmich sprach, klang es auffallend kritisch, was der frühere Kapitän über den aktuellen sagte. „Er versteckt sich. Nicht nur auf dem Platz ist er nicht mehr so präsent, auch nach dem Spiel ist er nicht mehr so präsent.“ Das wirkte allerdings ein bisschen merkwürdig, weil Kimmich sonst gerne einmal vorgeworfen wurde, zu präsent zu sein, alles machen zu wollen. Wie der fehlende Titel gehört es zu Kimmichs Karriere, dass der Blick auf ihn schnell vom einen Extrem ins andere verfällt. Das gilt auch für seinen Ehrgeiz. In schlechteren Zeiten schien er sich damit fast verdächtig zu machen, jetzt, in besseren, gilt er vielen als Vorbild schlechthin.
Kimmich ist ein Konstellationsspieler
Kimmich hat lernen müssen, mit Erwartungen umzugehen, nicht zuletzt mit den eigenen. Auch auf dem Feld ist er keiner, der ein Spiel alleine prägen kann wie die frühere Alphafigur Matthäus. Zu der lässt sich vielleicht in puncto Wille und Ehrgeiz eine Linie ziehen, aber als Fußballer ist Kimmich viel eher ein Konstellationsspieler, der die richtigen Leute um sich herum braucht, um selbst am besten zur Geltung zu kommen. Vielleicht war das auch eine Erkenntnis, zu der er selbst erst kommen musste.
Aktuell jedenfalls wirkt er wie einer, der in sich ruht. Und der sich auch nicht aus der Ruhe bringen lässt von der Frage, die ihn Zeit seiner Nationalmannschaftskarriere begleitet: Wo spielt Kimmich? Nagelsmann hat diese Frage zuletzt mit einer Art Wenn-Dann-Relation beantwortet. Wenn sich irgendjemand findet, der einen überzeugenden Rechtsverteidiger spielt, dann kann – und soll – Kimmich wieder ins Zentrum wechseln. Solange das nicht der Fall ist, fällt die Gesamtsumme in der Rechnung des aktuellen Bundestrainers mit Kimmich als Verteidiger günstiger aus. Bei der EM gehörte er dort zu den wichtigen deutschen Schwungkräften.
Womöglich kommt bei der WM noch etwas anderes ins Spiel. Bis auf weiteres jedenfalls lässt sich die These vertreten, dass Kimmich und die bislang titellose Generation der 1995er sich auch deshalb nicht voll entfalten konnten, weil sie nie in voller Verantwortung standen; dass er zwar das Glück hatte, schon lange dabei zu sein, aber das Pech, erst ziemlich spät den Raum zu bekommen, den er jetzt, nach den Rücktritten der letzten Weltmeister-Generation, bekommen hat. Ob ihm noch viele Chancen bleiben?
Als Rudi Völler, der Sportdirektor und Weltmeister, am Freitag gefragt wurde, was er Kimmich raten würde, sagte er: Geduld, „Lothar und ich haben unseren großen Titel erst mit 30 feiern dürfen“, Kimmich sei noch „jung genug“. Was man allerdings schon hinzufügen sollte: Die Zeit war eine andere.