Geopolitik

Gefahr im Straßenverkehr: Wenn Autofahrer vor Polizeikontrollen flüchten – und Menschenleben gefährden | ABC-Z

In mehreren Bundesländern zeichnet sich eine beunruhigende Entwicklung ab: Autofahrer versuchen, sich Verkehrskontrollen zu entziehen – und bringen damit andere und sich selbst in Lebensgefahr. In NRW endete eine solche Flucht jüngst tödlich. Die Gewerkschaft der Polizei sieht Handlungsbedarf.

Die Flucht vor der Polizei endete am Nikolaustag vor einem Grabstein in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen). Ein Mann wollte gegen 1 Uhr morgens am 6. Dezember einer Verkehrskontrolle ausweichen und raste mit Höchstgeschwindigkeit davon. Dann verlor der 40-Jährige die Kontrolle über den Wagen und landete auf einem Friedhof. Er floh zu Fuß weiter, ließ aber seine Geldbörse mit Ausweis im Auto.

Am Vortag, gegen 11.30 Uhr, entzog sich ein 82-Jähriger in Osnabrück (Niedersachsen) einer Kontrolle, überfuhr ein rotes Ampel-Signal und geriet auf den Bürgersteig. Zwei Fußgänger konnten sich durch einen Sprung zur Seite noch retten. Die Polizei stellte sich mit einem Wagen quer und nahm den renitenten Senior erst nach einigem Widerstand fest. Dieser hatte wenige Stunden zuvor einen Auffahrunfall begangen, und die Polizei zog auf Anordnung einer Richterin seinen Führerschein ein.

Am selben Tag, gegen 16.50 Uhr, wollte ein 18-Jähriger in Frankfurt am Main (Hessen) einer Polizeistreife entkommen. Er raste in Gegenrichtung durch eine Einbahnstraße und stieß mit einem geparkten Auto zusammen. Bei der anschließenden Flucht zu Fuß stellten ihn die Beamten.

Es sind drei Beispiele für ein wiederkehrendes Phänomen: Fast täglich melden Polizeibehörden bundesweit, dass sich jemand einer Verkehrskontrolle entzogen hat und dabei sein eigenes Leben und das von anderen riskiert hat.

Der Bundeschef der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, bestätigt gegenüber WELT, dass ihm seit einigen Monaten vermehrt GdP-Mitglieder von flüchtenden Fahrzeughaltern berichteten. „Die Polizei muss zunehmend für diese Einsatzanlässe das Personal schulen, Einsatzmittel wie den ,Stop-Stick‘ trainieren und viel mehr Kräfte bei geplanten Kontrollstellen vorhalten“, betont Kopelke.

Beim sogenannten Stop-Stick handelt es sich um eine neuere Version der traditionellen Nagelsperre auf der Straße, mit der Reifen durchbohrt werden, wenn ein Auto darüberfährt. Mitte November etwa setzte die Thüringer Polizei diese Notbremse ein, als ein flüchtiger Fahrer, ohne Führerschein und voll mit Drogen, von der Autobahn 71 an der Anschlussstelle Sömmerda-Süd runterraste. Der 27-Jährige fuhr auf Felgen weiter, rammte zwei Streifenwagen und wurde schließlich von weiteren Streifenwagen gestoppt.

Ende Oktober kam der „Stop-Stick“ bei Ilmenau (Thüringen) zum Einsatz. Auch dort ging die Fahrt zunächst mit platten Reifen weiter. Ein Polizeihubschrauber blieb am Flüchtigen dran. Der 23-jährige Fahrer hatte keinen Führerschein, dafür aber Alkohol und Cannabis intus und ein verbotenes Einhandmesser dabei. An seiner Tat zeigt sich exemplarisch, welche Delikte er begangen hat: Er muss sich nun wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Gefährdung des Straßenverkehrs, Teilnahme an einem illegalen Kraftfahrzeugrennen und Verstoßes gegen das Waffengesetz verantworten.

Zahl der Fluchten vor Kontrollen in Berlin steigt

Die meisten Bundesländer tun sich schwer mit detaillierten Informationen. Sie verweisen gegenüber WELT darauf, dass Verfolgungsfahrten bei ihnen statistisch nicht gesondert ausgewiesen seien, und nennen auch keine Tendenz.

Polizeibehörden einzelner Städte weisen zumindest darauf hin, dass solche Verfolgungsfahrten zugenommen haben. In Berlin wird seit 2020 die Zahl der Fluchten vor polizeilichen Kontrollen gesondert erfasst. Dabei stieg die Zahl der Ermittlungsverfahren: von 245 im Jahr 2020 – bei einem offenbar Corona-bedingten Rückgang 2021 und 2022 – auf 262 im Jahr 2023 und 278 bis Ende November dieses Jahres.

Es könnte auf eine allgemeine Tendenz hindeuten, dass der Respekt gegenüber der Polizei abnimmt. Als mögliche Erklärung für den Anstieg nennt die Polizei Berlin „eine gesteigerte Kontrolldichte sowie eine verstärkte sichtbare Präsenz polizeilicher Maßnahmen“. Diese erhöhe „das Entdeckungs- und Sanktionsrisiko für Verstöße, was bei einzelnen Betroffenen mitunter in einer Fluchtreaktion mündet“.

Seit 2017 gibt es mit dem Paragrafen 315d im Strafgesetzbuch einen neuen Straftatbestand. Dabei geht es um die Sanktionierung von unerlaubten Autorennen, die mit Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren geahndet werden können. Bei besonderer Gefährdung von Menschen droht ein höheres Strafmaß. Diesem Paragrafen wird auch die Flucht vor polizeilichen Kontrollen zugeordnet.

Es gibt nach Angaben der Berliner Polizei zahlreiche Gründe, warum sich eine Person einer Verkehrskontrolle entzieht: „Häufig liegen diese in dem Versuch, andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu verdecken. Zu den typischen Hintergründen zählen das Fahren ohne Fahrerlaubnis, Trunkenheit im Straßenverkehr oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz.“

Auch das Innenministerium Sachsen kann auf Anfrage konkrete Zahlen liefern. Dort wird ebenfalls auf den Paragrafen 315d verwiesen. Demnach stieg die Zahl der Straftaten in diesem Zusammenhang von 16 im Jahr 2018 auf 270 im vergangenen Jahr. Auch hier können verstärkte Kontrollen eine Erklärung sein. Parallel dazu ist auch die Zahl der dabei verursachten Unfälle gestiegen, und zwar von einem 2018 auf 44 im Jahr 2023.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde eine deutliche Zunahme der Verfolgungsfahrten von 516 Fällen 2015 auf 1164 im Jahr 2022 verzeichnet. Ein Sprecher der Polizei Köln in Nordrhein-Westfalen bestätigt auf Anfrage, es komme nach Erfahrungen von Beamten „tendenziell vermehrt“ zu solchen Situationen im Stadtgebiet. Auch in der Nachbarstadt Düsseldorf gab es dieses Jahr häufiger Verfolgungsfahrten als noch vor einem Jahr.

Den Anstieg im Westen Deutschlands führen Beamte auch auf mobile Einsatzkontrollen an der Westgrenze zu den Niederlanden zurück, weil dort der Kampf gegen Geldautomatensprenger und Drogenbanden intensiviert wurde.

Wie gefährlich eine solche Situation werden kann, offenbart ein Vorfall vom vergangenen Montag im hessischen Kassel. Da raste am frühen Morgen ein Mann mit zeitweise bis zu 130 km/h einer Polizeistreife davon. „Die weitere Flucht des Pkw verlief derart waghalsig, dass die Polizisten die Verfolgung zunächst abbrechen mussten, um andere nicht zu gefährden“, teilte die örtliche Polizei mit. In einer Linkskurve verlor der 30-Jährige die Kontrolle übers Auto und drückte einen geparkten Wagen gegen ein Gebäude. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von etwa 50.000 Euro.

Im September kam es sogar zu einem tödlichen Vorfall: Eine 30-Jährige war in Düsseldorf auf der Flucht von der Fahrbahn abgekommen und gegen mehrere Bäume geprallt. Die Fahrerin kam schwer verletzt ins Krankenhaus. Die 42-jährige Beifahrerin starb.

Politikredakteur Kristian Frigelj ist bei WELT zuständig für landespolitische Themen, vor allem in Nordrhein-Westfalen.

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