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Gastbeitrag von Katrin Göring-Eckardt: “Wir waren zu verkopft, zu viel Stadt” | ABC-Z


Gastbeitrag zur Grünen-Krise

Göring-Eckardt: “Wir waren zu verkopft, zu viel Stadt”

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Die Grünen-Vorsitzenden Lang und Nouripour ziehen nach desaströsen Wahlergebnissen die Reißleine. Ihr Rücktritt verdient Respekt und Anerkennung, schreibt Katrin Göring-Eckardt im exklusiven Gastbeitrag für ntv. Sie rüttelt ihre Partei wach und fordert eine Rückbesinnung auf das, was Bündnis90/ Die Grünen ausmacht.

Katrin Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Mitglied der Grünen-Bundestagsfraktion.

Nach der Europawahl im Mai, nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und zuletzt in Brandenburg ist festzustellen: Frustration, Unsicherheit, Kummer sind groß. Das muss alle demokratischen Parteien alarmieren. Denn Frust löst keine Probleme. Egal, wer regiert.

Es ist gut, dass meine Partei erste Konsequenzen zieht: Der angekündigte Rücktritt des Bundesvorstandes verdient Respekt und Anerkennung. Persönliches wird zurückgestellt. Ricarda Lang und Omid Nouripour übernehmen Verantwortung für das, für das die gesamte Partei verantwortlich ist. Wir waren zu verkopft, zu viel Stadt, wir haben zu wenig gefühlt, was andere gefühlt haben: Angst, Abstieg, Unfrieden. Der Schritt der Parteivorsitzenden zeugt von wahrer Größe. Es liegt jetzt an der gesamten Partei, daraus Großes und Verantwortungsbewusstes werden zu lassen – nicht nur für Bündnis 90/Die Grünen, sondern für unser Land.

Wir sollten für das eintreten, was fürs Land nötig ist und nicht nur auf das schauen, was machbar ist: saubere Luft. Eine intakte Natur. Gesunde Wälder. Bezahlbare Wohnungen. Gute Schulen. Sichere Brücken und Straßen. Zuverlässige Züge, Busse und Bahnen. Die Möglichkeit für ein auskömmliches Leben. Hier können wir Populisten und Rechtsextremen Paroli bieten. Sie haben außer Angstschüren, Frust verstärken und Schlechtreden kaum etwas im Angebot, was den Alltag der Menschen verbessert.

Mich beschwert, dass bei den vergangenen Wahlen die jüngeren Wählenden Vertrauen verloren haben. In meine Partei, in andere demokratische Parteien, in die Demokratie als solche. Die Krisen dieser Zeit hinterlassen ihre Spuren bei jungen Menschen. Zu lange verhallten ihre Sorgen und Wünsche. Es muss wieder gelten, dass wir auch die Interessen der nachfolgenden Generationen vertreten.

Wir können wieder eine Bündnispartei werden

Wir tragen “Bündnis 90” im Namen. Dass das Bündnisschmieden Teil unserer DNA und Kern unseres Selbstanspruches ist, sollte uns auch in der Hektik notwendiger täglicher Entscheidungen Leitspruch sein. Bündnisse schmiedet man dabei nicht innerhalb einer kleiner werdenden Blase, sondern mit denen, die die Welt, das Land, eine Sache wirklich anders sehen. Solange sie jedenfalls nicht feindlich, Gewalt anwenden oder unsere Demokratie untergraben wollen. Das ist eine Herausforderung. Ein Auftrag, an dem wir wachsen können.

Wir können wieder eine Bündnispartei werden, die Brücken schlagen kann. Vom Land in die Großstadt, von den Jungen zu den Alten, von den Engagierten zu den Hoffnungslosen. Ja, auch von den Gutmeinenden zu den Ablehnenden. In einer der tiefsten Krise der Partei können uns die Erfahrungen der Vereinigung von “Bündnis 90” mit der Westpartei “Die Grünen” Orientierung geben.

Damals nach der Wiedervereinigung war die innere Verfasstheit unserer Gesellschaft besorgniserregend. Deshalb betonten wir im Grundkonsens für die neue Partei “Bündnis 90/Die Grünen”: “Unsere politische Kultur soll einladend und aufnehmend und nicht abweisend und ausgrenzend sein. Sie ist darauf orientiert, Ängste abzubauen und Bereitwilligkeit für die notwendigen Veränderungen zu wecken.”

Zugleich nahmen wir uns vor: “Wo für uns die Suche und das Bemühen um Konsens oder überzeugende Kompromisse scheitern, sind wir gewillt, die nötigen Konflikte und Konfrontationen einzugehen.” Das sollte auch heute gelten. Viele mögen gerade das Schlechte, die Bewirtschaftung des Populismus, der Schlechtrederei, des Spaltens sehen. Ich möchte lieber nach vorne blicken. Denn der stärkste Antrieb fürs Weitermachen ist ein gutes Bild von der Zukunft.

Das Land der Unverzagten

Ich bin überzeugt: Unser Land ist besser, als es uns manche gerade einreden wollen. Wir können uns entscheiden, was für ein Land wir sein wollen. Ein Land der schlechten Laune. Oder das Land der Unverzagten. Wir haben es in der Hand. Bündnis 90/Die Grünen ging und geht es um eine freie, vielfältige Gesellschaft: eine zutrauende, eine lebensfrohe Gesellschaft, die die Zukunft bewahrt. Ein Land, in dem man füreinander da ist, in dem es nicht darum geht, es allen recht zu machen, wohl aber darum, Unterschiede auszuhalten, Probleme offen anzusprechen, für Sicherheit zu sorgen, das Verbindende zu suchen.

Es geht mir um Freiheit, die einschließt statt ausschließt. Eine umfassende Freiheit. Die Freiheit, saubere Luft zu atmen, zu beten, wie wir wollen, zu lieben, wen wir wollen. Und auch die Freiheit, andere Entscheidungen zu treffen als die anderen. Eine Freiheit, die andere nicht in die Ecke stellt: “Ihr Bevormunder!” “Verbieter!” “Gutmenschen!” Die genauso wenig jeden, der kritisch ist, abstempelt und meidet. Und die deutlich sagt, was droht, wenn gefährliche Populisten und Demagogen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung attackieren. Eine Freiheit, die den Rechtsstaat schützt, damit Menschlichkeit bleibt.

Ich bin überzeugt: Die Sehnsucht nach Sicherheit und Freiheit ist umfasst. Unser Auftrag ist und bleibt, unsere Natur zu schützen, unsere Menschlichkeit, unseren neuen Wohlstand. Miteinander statt gegeneinander. In Bündnispartnerschaft. Die Zeit dafür ist jetzt.

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