Gang durch die Jakobneuhartinger Filze: Wenn Literatur und Natur sich begegnen – Ebersberg | ABC-Z

Die Frauen, die diesen sonnigen Februarvormittag – dick eingepackt und mit festem Schuhwerk – gemeinsam bei einem Moorspaziergang verbringen werden, sind sich zuvor noch nie begegnet. Sarah Egg ist klassische Biologin/Ökologin mit Fokus auf den Bereich Gewässerökologie und seit September 2022 Moormanagerin bei der Unteren Naturschutzbehörde. Nicole Wellemin aus Pliening wiederum schreibt, sehr erfolgreich, Bücher. Ihr Schwerpunkt: Nature Writing („was heißt, dass ich mir ein Naturthema suche, welches sich auf vielen Ebenen in der Handlung widerspiegelt“), ihr aktueller Familienroman: „Das Echo der Moore“.
Warum Wellemin die packende Geschichte um zwei sich fremd gewordene Schwestern und ihre Mutter gerade mit einem solchen Ort verwoben hat, will sich die Süddeutsche Zeitung daher bei einem Ausflug erzählen lassen. Zwar ist die Handlung im Bayerischen Wald angesiedelt, doch die Realitätsnähe der Schilderungen erkennt man in Begleitung von Egg auch hier, in der Jakobneuhartinger Filze, dem südlichen Teil der Frauenneuhartinger Filze.
:Von schädlichen Geheimnissen und starken Frauen
Der Roman „Späte Ernte“ von Nicole Wellemin spielt in der Welt der Südtiroler Apfelbauern. Die Plieningerin schreibt über generationenübergreifende Verletzungen, fremde Schuld und Genesung dank Freundschaft unter Frauen sowie der Kraft der Natur.
„Fuizn ist der altbairische Ausdruck für ein Hochmoor“, erklärt die Fachfrau, während das, ebenfalls altbairische, „Moos“ ein Synonym sei für ein Niedermoor. Ein solches mit mindestens 30 Zentimeter Torf mit Pflanzenmaterial, also abgestorbenen Ästchen und Blättern, befände sich zwangsläufig immer unter einem Hochmoor. Obwohl diese häufig relativ baumfrei sind, steht man nun, nach der holprigen Fahrt über einen gefrorenen Feldweg quer durch die klassische Grünlandwirtschaft des Voralpenlands vor einem Wald.
„Früher habe ich bei ‚Moor‘ sofort an Nebel, seltsame Geräusche und gruselige Gespenstergeschichten gedacht“, gesteht Wellemin. Diese Gefühle hat sie – zumindest in deren Teenageralter, von dem auf einer der unterschiedlichen Zeitebenen erzählt wird – einer ihrer Heldinnen verpasst. Chrissi hat ihre niederbayrische Heimat nie verlassen und lebt mit ihrer Familie in dem Dorf, in dem sie selbst unter schwierigen Bedingungen groß geworden ist. Mittlerweile fürchtet die dreifache Mutter sich zwar nicht mehr, misst dieser besonderen Landschaft aber auch keine besondere Bedeutung zu.
Ganz anders die zweite Protagonistin, Theresa, kinderlos und in ihren frühen Dreißigern, wie die Zwillingsschwester, mit der sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat. Dennoch kehrt die Biologin ins fiktive Moosbrunn zurück, um dort, parallel zu den Forschungsarbeiten für ihre Promotion, in einem Moorerlebniszentrum Erlebnispfade zu konzipieren. Schon als Kind hat sie sich in die Natur geflüchtet, um einem Alltag zu entfliehen, der in erster Linie daraus bestand, Kontrolle und Verantwortung zu übernehmen – für sich und die Schwester, aber vor allem für die Mutter und den kranken, kleinen Bruder.

„Als das Moor in den letzten Jahren immer mehr ins kollektive Bewusstsein rückte, mit all seinen positiven Aspekten von Artenschutz bis CO₂-Speicher, wandelte sich mein Blick. Plötzlich war das Düstere, Unheimliche weg“, begründet die Autorin die Wahl dieses Schauplatzes. Damit habe sich das Setting als Spiegel für ihre Figuren entpuppt: „Das Moor kann ganz verschieden gesehen werden – genau so ist es auch im Leben meiner Protagonistinnen.“ Alle hätten dasselbe erlebt, aber ganz andere Erfahrungen gemacht. „Die Wahrheit sieht für alle unterschiedlich aus. Und so wie das Moor das konserviert, was es einschließt, sind auch alle Verletzungen der Vergangenheit nach dieser langen Zeit noch da.“
Ausschließlich positive Gefühle hingegen erlebt der kleine Trupp in der Realität, als sich beim Gang durch die verwunschene Winterlandschaft, auf einem Boden, der trotz der klirrenden Kälte immer noch ein wenig nachfedert, plötzlich eine Lichtung auftut, voller Birken, weit und hell. Ein Kraftort, wie er im Buche steht.
Auch Egg, sichtlich erfreut über die überraschten und begeisterten Ausrufe ihrer Begleitung, liebt diesen Platz, zu dem ein Weg führt, neben dem immer wieder Entwässerungsgräben mit stehendem Wasser verlaufen. Um zu verstehen, was man sieht, muss die Expertin ein wenig ausholen: „Die Torfschicht unter euren Füßen ist mehr als drei Meter tief. Die Senke links ist niedriger, dort fehlen zwei Meter, weil dort Handtorf gestochen wurde.“

Jeder Bauer habe früher einen Stich gehabt, sich auf diese Weise mit Brennmaterial versorgt, während heute das schwarze Material als beste Komposterde unter anderem zur Anzucht von Gemüse dient. Die getrockneten grünen Pflanzen wiederum, die Torfmoose, habe man als Kissenfüllung verwendet – „ähnlich wie Strohsäcke ganz früher“. Und wiewohl das Ziel des Landschaftspflegeverbands sei, die Moore wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuführen, habe dieser den Torfabtrag in der oben erwähnte Senke sogar noch ein wenig vergrößert. Warum?
„Es geht um den Kreuzotternschutz. Der beginnt mit Amphibienschutz. Darum wurde die Wasserfläche vergrößert, um Fröschen zu ermöglichen, dort abzulaichen.“ Außerdem nutze das Reptil die Kante, um sich morgens dort aufzuwärmen. Gespannt blicken nun alle auf das Schlangenblech, das die Biologin anhebt. Wird sich darunter gleich eine Otter zeigen oder wenigstens eine Blindschleiche? Leider nein, nur eine kleine Maus huscht weg.

Renaturierung in Ebersberg
:Wie man Moore wieder nass macht
Wie fast alle Moore in Deutschland, ist auch das Brucker Moos größtenteils entwässert. Nun wollen Naturschützer es wieder renaturieren. Das ist wichtig für den Klimaschutz.
Es liegt eine unglaubliche Ruhe über der von Heidekraut und anderen Pflanzen gesäumten Lichtung. Man lernt: Pfeifengras wächst nur im Moor, wurde früher zu Büscheln gebunden und zum Putzen von, genau, Pfeifen verwendet, indem man es durch das Rohr zog. Faulbaumsträucher heißen so, weil ihre Rinde, aus der Schießpulver hergestellt wurde, komisch riecht. „Das wollen wir eigentlich gar nicht haben – es zieht zusätzlich Wasser und seine vielen Blätter sorgen dafür, dass etwa Moosbeeren verloren gehen, weil sie nicht genügend Licht bekommen.“ Darum rücke man dem Gewächs einmal im Jahr händisch mit der Motorsäge zu Leibe.
Man könnte der Moormanagerin stundenlang zuhören, so interessant und kundig spricht sie über ihr Fachgebiet. Tatsächlich macht die junge Frau auch ab und an geführte Exkursionen – jedoch nicht in dem Maße, in dem sie es gern tun würde. „Es tut mir unendlich leid, wenn ich Kindergärten oder Schulen absagen muss, aber ich habe halt nur eine halbe Stelle beim Landratsamt.“ In der restlichen Zeit sei sie freiberuflich im eigenen Kartierungsbüro tätig und arbeite an ihrer Doktorarbeit über Bachmuscheln.

Auch die mitunter äußerst schwierigen Bedingungen, die für junge Wissenschaftlerinnen mit einer Promotion verbunden sind, werden im Roman thematisiert. Aus persönlicher Erfahrung kennt Wellemin diese zwar nicht, dafür anderes umso besser. „Dass Zwillinge sich immer total nah sind, ist ein Irrglaube.“ Vielmehr seien etwa ihre am selben Tag geborenen Töchter von Wesen und Charakter her ganz unterschiedlich. Auch die Schilderungen vom Leben mit einem kranken Kind sind keineswegs aus der Fantasie geboren. „Bis zu ihrem dritten Lebensjahr war ich mit einer der Töchter aufgrund einer Autoimmunerkrankung 16 Mal im Krankenhaus.“ Zum Glück gehe es der mittlerweile 19-Jährigen aber jetzt gut.
An die Überforderung, die sie damals gespürt habe, diese „Dreifaltigkeit der Unzufriedenheit“, weil man weder als Mutter, noch im Job oder in der Partnerschaft die Person sei, die man sein wolle, könne sie sich allerdings noch lebhaft erinnern. „Und das geht vielen so, da braucht man nicht mal ein krankes Kind zu haben.“
Als man anschließend bei einem heißen Cappuccino zusammensitzt, erklärt Wellemin, auch künftig interdisziplinär Ort und Handlung verzahnen zu wollen. „So ein Roman hat ja dann eine ganz andere Relevanz, weil er echte Themen aufgreift“, begründet die Autorin diese Entscheidung. Ökologin Egg sieht ebenfalls viel Positives in dieser Art von Literatur: „Man erreicht so vielleicht doch nochmal ganz andere Zielgruppen, die sich sonst nicht notwendigerweise mit diesem Sujet beschäftigen würden.“
Am Ende gibt Nicole Wellemin mit einem kleinen Lachen zu, vor dem Termin doch ein wenig Bammel gehabt zu haben: „Obwohl ich sehr viel gelesen habe und auch von zwei Biologinnen aus Greifswald beraten wurde, ist ein Expertentreffen, wenn der Roman fertig ist, ja schon noch etwas Besonderes.“ Völlig grundlose Befürchtungen – Sarah Egg hat an den Kenntnissen der Autorin nichts auszusetzen.
Nur jenes Tier, das eine große Rolle spielt in dem packenden sowie dank Humor und Liebesgeschichte auch herzerwärmenden Roman, aber (Spoilergefahr) an dieser Stelle nicht genannt werden soll, „das gibt es in unserem Landkreis nicht“. Im Hochmoor Todtenau im Bayerischen Wald, wo Wellemin hauptsächlich recherchiert hat, sei das allerdings nicht auszuschließen. Insofern: Alles richtig gemacht!