Fußballplätze und Zwangsarbeit: Jubeln, wo andere leiden mussten | ABC-Z
Was Zwangsarbeit und Fußballplätze verbindet
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Jubeln, wo andere leiden mussten
Sa 28.12.24 | 13:10 Uhr | Von
Zahlreiche Fußballplätze wurden im Nationalsozialismus zu Zwangsarbeitslagern umfunktioniert. Eine Website zeigt sie auf einer interaktiven Karte. Eine Spurensuche an Orten, an denen gelitten und gekickt wurde. Von Aljoscha Huber
Etwas ist so groß wie XY Fußballfelder: Eine oft bemühte Vergleichsreferenz, meist um die Größe einer Fläche zu verdeutlichen. Es funktioniert aber auch andersherum, um zu verdeutlichen, wie klein etwas ist. Die Fläche, auf der die bis zu 1.200 Zwangsarbeiter im Lager Baumschulenweg in Berlin zusammengepfercht lebten, war etwas größer als zwei Fußballfelder.
Ein Abend kurz vor Weihnachten. Es schüttet und heißt man nicht gerade Fritz Walter, ist es ein Wetter, das so gar nicht zum Fußballspielen einlädt. “Hier kommt heute keiner”, sagt ein Mann vor der Vereinsgaststätte “Teufels Küche”. Die Ü32, die hier eigentlich gleich trainieren soll, wurde vom Regen offenbar abgeschreckt.
Bis Mai 1942 spielte hier in Berlin-Treptow der Treptower Turnverein 1899 e.V., bis er auf Grundlage des Reichsleistungsgesetzes zur “Errichtung von Arbeiterunterkünften” enteignet wurde. Danach wurde auf dem Gelände ein Lager für 1.200 Zwangsarbeiter errichtet.
Neue Website macht Geschichte erlebbar
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als acht Millionen zivile Zwangsarbeiter aus ganz Europa ins Deutsche Reich verschleppt. “Zwangsarbeitende haben die Kriegsindustrie aufrechterhalten. Ohne sie hätte man den Krieg ab Ende 1943 gar nicht mehr fortführen können”, sagt Daniela Geppert, Leiterin der Bildungsabteilung des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin, zu rbb|24. Nach Wehrmacht und SS fielen die Beamten der deutschen Arbeitsämter in die besetzten Gebiete ein und deportierten Millionen von Zivilisten.
In Form einer interaktiven Karte stellt die neue Website jubel-unrecht.de ehemalige Zwangsarbeitslager auf Fußball- und Sportplätzen vor. Ziel des Projekts ist es, junge Fußballfans dort abzuholen, wo sie stehen – und zwar buchstäblich. Die Aufmachung der Website im Stil eines Graphic-Novel soll aktive Fußballfans, die Woche für Woche in den Fankurven ihrer Klubs stehen, ansprechen. “Das ist der emotionale Bezugspunkt, über den wir die Leute erreichen wollen”, sagt der Historiker Julian Krings zu rbb|24 bei der Vorstellung des Projekts in Berlin.
Träger sind die Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht in Osnabrück. “Dieser positive Bezug, den viele mit dem Fußball verbinden, ist ein guter Ansatzpunkt, mehr Leute zu begeistern als mit klassischer Gedenkstättenarbeit”, sagt er bei der Vorstellung des Projekts in Berlin. 170 Orte hat das Team um Bastian Satthoff, Tina Schröter und Julian Krings bisher gefunden. Ein Jahr lang recherchierte das Projektteam die Orte. Fanprojekte beteiligten sich bei der Suche, Ultragruppen sammelten Geld für eine Gedenkstätte.
Vom Amateurplatz bis zur Profi-Arena
Die Orte, die sich auf der Website finden, sind in ihrer Größe und heutigen Bedeutung unterschiedlich. Kleine Amateurplätze in ganz Deutschland und Österreich, an denen Woche für Woche Millionen ihrem Hobby nachgehen, aber auch riesige Stadien. Was sie alle eint: Es sind positiv besetzte Orte.
Zum Beispiel das Volksparkstadion in Hamburg. Leidgeprüfte Fans des Hamburger SV dürften vielleicht intervenieren, aber: ein Ort des Jubels. Seit 1953 spielt der HSV im Volksparkstadion im Altonaer Volkspark, wo sich auch das Vorgängerstadion des Vereins befand. Hier gewann Frankreich im Sommer das EM-Viertelfinale gegen Portugal und Woche für Woche feiern hier bis zu 50.000 Zuschauer bei Zweitliga-Spielen. Bei Toren für den HSV spielt die Stadionregie eine Version des Elektro-Hits “Always Hardcore” von Scooter.
Ein Blick auf die Website verrät: Ab 1943 waren im “Lager Volkspark” in der Tribüne des Stadions rund 200 italienische Zwangsarbeitende untergebracht.
Das Lager nur einen Ballwurf entfernt
Scrollt man auf der interaktiven Karte weiter nach Osten, stößt man auf einen Platz in Potsdam-Babelsberg: den Sportplatz “An der Sandscholle”. Nur einen schlecht getimten Seitenwechsel, einen Ball, der über den Zaun hüpft, entfernt, befand sich hier ein Lager, in dem zwischen 1943 und 1945 etwa 600 Zwangsarbeiter untergebracht waren.
An einem Dezembertag ist es stürmisch in Potsdam, das hochgeklappte Tornetz klappert im Wind. Hier trainieren und spielen die Jugendmannschaften des SV Babelsberg 03, manchmal auch die 1. Mannschaft. Die Anlage strahlt aus, wo sich der Regionalist bewegt: an der Schwelle zwischen Amateur- und Profifußball. Die Kabinen sind in die Jahre gekommen und verbreiten einen Geruch, der mit seiner Kombination aus frisch gemähtem Rasen, Schweiß und altem Gemäuer unweigerlich zurück in die F-Jugend katapultiert. Der Kiosk wirbt mit 2 Euro für einen halben Liter Pils und dem Stück Kuchen für 80 Cent. Zugleich ist der Platz top gepflegt, gleich zwei Platzwarte kümmern sich an diesem Montagmittag um den Rasen.
Vor der Kabine wartet Christian Raschke. Er ist Mitglied beim SV Babelsberg 03 und ehrenamtlich in einem Verein tätig, der sich mit der Geschichte Babelsberg beschäftigt. Er führt einmal quer auf die andere Seite des Platzes zu einer kleinen Tribüne.
Namen, die in keinem Abspann stehen
In Potsdam-Babelsberg saß damals wie heute die Ufa. Die Filmproduktionsfirma stellte sich ab 1933 voll in den Dienst der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie und brachte die Ideologie und Hetze des Regimes auf die große Leinwand. Namen, die damals in keinem Abstand stehen: Die von Hunderten Zwangsarbeitern, die für die Ufa schuften müssen.
“Es gab eigentlich keine Branche, keinen Betrieb, der keine Zwangsarbeitende hatte”, sagt Daniela Geppert vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Auch der Filmbetrieb brauchte billige Arbeitskräfte. Und die holte sich das Regime, in dem es Menschen aus den überfallenen Gebieten zwangsdeportierte.
1942 erwarb die Ufa zwei benachbarte Flächen direkt am Sportplatz Sandscholle und errichtete mehrere Baracken. Aus den West-Gebieten waren es vor allem alleinstehende Männer und Frauen, die nach Babelsberg gezwungen wurden. Aus der UdSSR oder Polen verschleppten die Nazis dagegen ganze Familien mit ihren Kindern – auch Kinder unter 14 Jahren wurden hier für die Zwangsarbeit eingesetzt.
Zwei Zwangsarbeiter spielten beim SV Babelsberg
“Die wurden einfach von der Straße aufgesammelt. Und zwar oft mit nicht mehr als den Klamotten, die sie gerade anhatten”, sagt Christian Raschke. Zusammen mit weiteren Ehrenamtlichen versucht Raschke, die Zwangsarbeit-Vergangenheit des Vereins zu erforschen. Raschke ist nicht der Einzige im Fan-Umfeld, der sich auch mit der dunklen Geschichte des Klubs auseinandersetzt. Fängt man an zu graben, stößt man auf zahlreiche junge Menschen, die sich mit der Historie des Vereins beschäftigen.
So gibt es eine Recherchegruppe von jungen Fans, die sich mit der Rolle des Vereins im Nationalsozialismus befassen. Sie fanden heraus, dass beim SV Babelsberg zwei Zwangsarbeiter im Spielbetrieb eingesetzt wurden. Unter den Zwangsarbeitern sei Fußball der mit Abstand beliebteste Sport gewesen – aber nur Zwangsarbeitern aus Westeuropa war das Fußballspielen erlaubt, sagt Daniela Geppert.
“Das Lager der Ufa hatte eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten”
“Das Lager der Ufa hatte eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten”, sagt die Historikerin Almuth Püschel. Sie zeichnet ein Bild von unmenschlichen Lebensbedingungen in den Ufa-Lagern. Typhus- und Masernepidemien wegen der miserablen hygienischen Bedingungen. Unterernährung, Mangelernährung und Kälte im Winter. “Besonders für Säuglinge bedeuteten die Bedingungen oft den Tod”, sagt Püschel.
Es lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei belegen, aber mehrere Historiker und Historikerinnen, mit denen rbb|24 während der Recherche spricht, halten es für wahrscheinlich, dass auf dem Platz an der Sandscholle zeitgleich zur Existenz der Zwangsarbeitslager Fußball gespielt wurde. Dass also während auf dem Platz Tore bejubelt wurden, nur einen Ballwurf entfernt Misshandlungen stattfanden, Seuchen grassierten und Säuglinge starben.
Heute stehen Wohnhäuser aus den 1950er Jahren, wo einst die Baracken waren. Nichts deutet darauf hin, dass das hier mal ein Ort des Grauens war. Christian Raschke und seine Mitstreitenden wollen das ändern.
Im Stadtbild unübersehbar
Was die Orte fast alle eint: Sie waren im Stadtbild unübersehbar. Auch das Lager Baumschulenweg vom Anfang war umringt von Wohngebieten. Zivilisten aus der Sowjetunion, Frankreich oder den Niederlanden wurden hier hin verschleppt. Einer von ihnen: Francois Cavanna.
Seine Geschichte findet sich als weiterführende Information auf der Website. Er erzählt, wie er aus Paris verschleppt wurde und nach Berlin kam. Nach dem Krieg gehörte Cavanna zu den Mitbegründern der Satirezeitschrift “Charlie Hebdo”. “Ich benahm mich schlecht, ich arbeitete schlecht. Ich sabotierte so viel wie möglich. Ich durfte mein Leben aber nicht aufs Spiel setzen, denn ich war verliebt”, so Cavanna. Die Frau, in die er sich während der Zeit im Baumschulenweg verliebte, verlor er in den Wirren der letzten Kriegstagen aus den Augen – und sah sie nie wieder.
In Berlin reichen die Plätze, die sich auf der Website finden, von klein bis groß, von Profivereinen wie dem 1. FC Union Berlin, dessen 1. Frauenmannschaft bis Anfang dieses Jahres auf einem Platz spielte, auf dem in Baracken Zwangsarbeiter aus Italien untergebracht waren, dem Mommsenstadion, das von Zwangsarbeitslagern umsäumt war, über untergegangene Kurzzeitgrößen wie Tasmania Berlin, dem schlechtesten Bundesligisten aller Zeiten und seinem nicht mehr bestehenden Platz an der Sonnenallee in Neukölln.
Alles Orte, an denen Menschen gerne ihre Freizeit verbringen, Spaß haben, dem Alltag entfliehen. Aber eben auch: Orte, die für andere das Grauen waren.