Kultur

Fußball-EM: Unter falscher Flagge | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Zum Beispiel der goldbeige Mercedes E 280, der mich beim gestrigen Brötchenkauf in Berlin um ein Haar über den Haufen gerammt hätte. Fahrstil beiseite, eine durch und durch erfreuliche Straßenerscheinung. Links zitterte an ihm die türkische, rechts die deutsche Fahne. Den ersten Angstschock überwunden, erschien vor dem geistigen Auge ein vorbildlicher Doppelstaatsbürger in jahrzehntelanger Vollbeschäftigung, mit allen vier Sommerreifen fest auf dem Boden der freiheitlichen Grundordnung auch meines sogenannten Heimatlandes. Denn mal ehrlich: eine Seele, zwei Bekenntnisse – welcher freie Geist wähnte da einen notwendigen Widerspruch?

Gegeben unsere besondere Zeit, mochte es sich bei besagtem Wagenlenker genauso plausibel um einen überzeugten Erdoğan-Adepten mit stabiler AfD-Sympathie gehandelt haben. Die Flaggenhermeneutik, sie bleibt, mit anderen Worten, ein heikles Geschäft.

Womit man gedanklich schon bald bei jenem Bündnissymbol wäre, das in den letzten vier Wochen, ja den letzten vierzig Jahren deutsch-feuilletonistischer Fußballflaggenzerknirschung nicht ein einziges Mal ernsthaft zur prüfenden Diskussion kam. Genauso wenig wie man es auch nur an einem einzigen Auto oder Fan-Fest bisher froh im Winde zittern sah. Von den Stadien und Spielfedern der diesjährigen Europameisterschaft ganz zu schweigen. Dabei handelt es sich um eine Flagge, die den allseits angestrebten Friedensgeist dieses Freudenfests ohne jede dunkle Ambivalenz zu symbolisieren vermöchte. Die Rede ist, natürlich, von dem tiefblau unterlegten Sternenkreis der Europäischen Union – der Flagge der EU. Seit 1985 offizielles Symbol des Staatenverbundes und all seiner Institutionen.

Anstatt ein Lamento verpasster Chancen anzustimmen, soll hier aus gegebenem Anlass lieber jener Raum eröffnet werden, der jedes politische Handeln im Anfang bedingt: den der Imagination. Stellen wir uns also einmal vor, bei den heutigen Spielen Frankreich gegen Polen sowie Österreich gegen Niederlande würde vor Anpfiff neben den beiden Nationalfahnen auch die der Europäischen Union als dritte im Bunde mit aufs Feld geführt. Wie auch bei einem möglichen Achtelfinale, sagen wir, Spanien gegen Ungarn. Was spräche eigentlich gegen eine solche Symbolhandlung? Wäre von Seiten der Uefa glaubhaft etwas dagegen einzuwenden? Oder von auf der Ehrentribüne weilenden Ministerpräsidenten wie Viktor Orbán? 

Was fürs Gemüt

Gewiss nicht ein an sich berechtigtes Bestreben, das Spielfeld von politischen Statements möglichst freizuhalten. Seit knapp vierzig Jahren offizielles Symbol, ist die EU-Flagge nicht weniger oder mehr politisch als die jeweiligen Nationalflaggen der Staaten, die Teil dieses einzigartigen Friedensbündnisses sind. Jedes deutsche Bundesgebäude ist ebenfalls mit ihr beflaggt, jeder offizielle Empfang von ihr begleitet. Erfährt sich nicht jeder Bürger und jede Bürgerin unter dieser Flagge rechtlich mindestens genauso frei, geschützt und gestützt wie unter der jeweils eigenen?

Stellen wir uns also, darüber hinaus, nur einmal vor, neben den jeweiligen Nationalhymnen würden heute Abend, und so in jedem weiteren Turnierspiel von zwei EU-Mitgliedern, auch die europäische Hymne im Stadion als Dritte gespielt, gar mitgesungen oder gesummt? Von beiden Fanblocks gemeinsam, sehr gern auch ihrer jeweiligen Landessprachen. Sogar die Mehrheit der anwesenden Engländer und Schotten, Georgier und Albaner stimmten da, so die Vermutung, gerne lauthals ein: Freude schöner Götterfunken … 

Was wäre das für eine Botschaft! An unsere Länder, diesen Kontinent, diese Welt. Hier, heute, im deutschen Sommer des Jahres 2024. Wenige Wochen nach der Europawahl, wenige Tage vor französischen Parlamentswahlen, die das gesamte Jahrhundertprojekt EU in einen neuen Abgrund zu stoßen drohen.

Als ob bei Sternenlichte betrachtet irgendein unüberwindbarer Widerspruch darin bestünde, sich zu zwei Ländern oder Staatenbünden gleichzeitig zu bekennen; sich als deren Mitglied zu erfahren; unbedingt für deren niedergelegte Ideale einstehen zu wollen. Dass es Ideen gibt, auf die die EM-Organisatoren auch in 100 Jahren nicht gekommen wären, spricht nicht notwendig gegen diese. Zumal es ja – hoffentlich – auf unserem Kontinent nicht das letzte Turnier dieser Art gewesen sein wird.

Und bereits morgen wird auch mein eigener Citroën Berlingo doppelt beflaggt durch die Hauptstadt rauschen. Eine der beiden Fahnen, versprochen, wird tiefblau gefärbt sein. Was gegen die Angst. Was fürs Gemüt. Und also Träumen. Imagine all the people … it’s easy, if you try.

Back to top button