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Fußball-EM: Ein Eigentor hätte diesem Spiel gutgetan | ABC-Z

Das mysteriöseste Wesen im Fußballspiel ist der Ball selbst. Während alle anderen Beteiligten über 90 Minuten die bleiben, die sie sind, wechselt der Ball dauernd das Lager, ja sogar den Charakter: Gerade noch ist er ein Freund, schon im nächsten Moment wird er zum Feind. Mal ist er eine Waffe im Besitz von Mannschaft A, dann wechseln die Vorzeichen, und nun bedroht Mannschaft B mit ihm die arme Mannschaft A.

Fußball ist also ein hochnervöses Wechselspiel von Ballbesitz und Ballverlust. Einen dritten Zustand gibt es eigentlich nicht – wenn man von den Erholungsphasen absieht, die bisweilen durch ein Foul entstehen, die anschließende Rudelbildung oder die langen Minuten, ehe der VAR seine Entscheidung verkündet. 

Es heißt, eine Mannschaft erhole sich in Momenten des Ballbesitzes vom Stress des Spiels. Aber stimmt das? Fußballpsychologen behaupten im Gegenteil, dass Mannschaften bei Ballbesitz von Furcht ergriffen seien – nämlich von der Furcht, vom Allerliebsten, dem Ball, verlassen zu werden. So wirkte kürzlich die englische Mannschaft im Spiel gegen Dänemark.

Das erklärt möglicherweise, weshalb gewisse tief stehende Mannschaften wie Atlético Madrid oder das Catenaccio-Italien früherer Zeiten so furchtlos und verwegen wirken: Sie haben den Ball selten, wollen ihn auch gar nicht und kennen deshalb die Ballverlustangst nicht – sondern nur die Balleroberungslust und die Balldiebstahlgenugtuung.

Sie sind dem Ball gegenüber grundsätzlich verächtlich eingestellt. Sie wollen ihn nur, um ihn schnellstmöglich wieder loszuwerden und dreschen ihn bei erster Gelegenheit ins gegnerische Tor, als wäre es ein riesiger Papierkorb.

Und sie tendieren dazu, trotz ihrer wenigen Schüsse “effizient” zu sein, also so oft zu treffen, dass die gegnerischen, ballverliebteren Mannschaften daran verzweifeln. Die schießen zwar häufig aufs Tor, aber irgendwie halbherzig, weil sie sich vom Ball nicht trennen mögen.

So feuerte vor einigen Tagen die spanische Mannschaft im Spiel gegen Italien 20 Schüsse ab und erzielte doch kein Tor. Sie gewann schließlich durch ein Eigentor der Italiener.

Der Ball, so wirkt es manchmal, macht, was er will. Der Ball zeigt Eigensinn. Ein Zeichen dafür: Es gab schon fünf Eigentore bei dieser Europameisterschaft.

Das Eigentor ist ein Paradoxon dieses Sports: Ein Tor, über das sich der Spieler, der es schoss, gar nicht, und derjenige, der die Vorlage gab, nur so halb freut. Ein Tor, das beide beschämt: den Schützen sehr, aber den Vorlagengeber, der vom Ungeschick des Gegners profitiert, eben auch.

Der Trend zum Eigentor ließ sich während des Ligabetriebs bereits ahnen. Da war zu erkennen, dass es für eine Mannschaft effektiver sein kann, auf die gegnerischen Abwehrspieler, genauer: auf deren Arme und Hände, zu zielen als aufs Tor. Das gegnerische Tor ist ja verdammt gut gesichert, zahlreiche Feldspielerbeine und ein meist zackig herbeispringender Torwart verhindern den Einschlag des Balls – die Möglichkeit, da hindurchzukommen, ist gering. Hingegen ist eine Hand oder ein Arm relativ leicht zu treffen, wie eine einfache Rechnung beweist: Der Gegner verfügt nur über ein Tor, aber über insgesamt 20 Arme und 20 Hände, die man anzielen kann: Die Trefferchance – wenn das alles im Strafraum passiert und der Schiedsrichter Elfmeter pfeift – liegt also viel höher.

Man hat schon in manchen Ligaspielen den Eindruck gehabt, gewisse Spieler hätten speziell die Schüsse auf lohnende gegnerische Gliedmaßen trainiert.

Kann es sein, dass die Angreifer diese Logik nun verinnerlicht haben? Dass es ertragreicher sein kann, den Ball ins Getümmel der Abwehrspieler hineinzujagen als in Richtung Tor? Oder hat die immer größere Verfeinerung, die wahnsinnige Raffinesse des Passspiels zur Folge, dass der simple Torschuss von den Supertechnikern (auch denen in der deutschen Mannschaft) eigentlich als primitiv, als Vulgarität angesehen wird, was dazu führt, dass sie lieber noch einmal passen, als zu schießen? Wobei dann eben ein gegnerisches Bein im Weg sein kann, das den Ball ins Tor lenkt?

Das alles ist natürlich nur Spekulation. Der Autor dieser Glosse ist nämlich noch berauscht vom Spiel Niederlande gegen Frankreich, das er gestern im schönen Leipzig gesehen hat. Ein großes Spiel, das leider null zu null ausgegangen ist. Kein Zweifel: Ein Eigentor hätte der Partie gutgetan. 

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