Neuer Eiskanal für Olympia 2026 sorgt für Debatten | ABC-Z

Cortina d’Ampezzo ist eine einzige Baustelle. In der Luft hängt Staub, aufgewirbelt von den vielen Lastwagen und Baggern. Viele Straßen sind gesperrt, auch die Promenade am Westufer des Boite. Bauzäune und Kräne allenthalben. Auf großen Werbeplakaten, die die Stadtverwaltung an jeder Ecke hat anbringen lassen, werden Einheimische und Besucher mit Blick auf die Olympischen Winterspiele 2026 aufgerufen: „Accendi la tua fiamma“. Zum Entzünden der inneren olympischen Flamme für die Wettbewerbe auf Schnee und Eis ist es aber noch ein bisschen zu früh. Die Spiele, ausgetragen in Cortina und Mailand sowie an weiteren Wettkampfstätten Norditaliens, beginnen erst in knapp zehn Monaten. Sie dauern vom 6. bis zum 22. Februar 2026, die Paralympics folgen dann vom 6. bis zum 15. März.
Zudem ist es frühlingshaft mild und sonnig dazu. Von Schnee ist in Cortina, auf gut 1200 Meter Meereshöhe gelegen, kaum eine Spur zu sehen. Droben, auf der Tofana und zumal der Faloria, sind die Schneeverhältnisse aber noch gut, auch wenn die Pisten an den Südhängen zur Mittagszeit aufweichen. Die meisten Skigebiete in den Dolomiten haben am ersten Wochenende im April die Saison beendet. Zu den Höhenlagen über Cortina bringen Gondeln und Lifte die alpinen Wintersportler aber noch bis Anfang Mai. Immerhin ein Sechstel der gut 120 Pistenkilometer ist noch geöffnet.
Schauplatz für „in tödlicher Mission“
Zwischen den hohen Zeiten des Winter- und des Sommertourismus gibt es in Cortina und anderswo in den Bergdestinationen Norditaliens freilich eine Besucherdelle. Die lässt sich immerhin gut für erforderliche Reparaturen und Erneuerungen nutzen – in Cortina in einem vorolympischen Jahr wie diesem zumal. Überhaupt ist der Glanz der „Perle der Dolomiten“, wie das Städtchen mit rund 5500 Einwohnern einst genannt wurde, inzwischen ein wenig verblasst. An der Talstation der Gondel zur Tofana erinnert heute eine Gedenktafel an die guten alten Zeiten, die im Vergleich zu den gegenwärtigen tatsächlich golden gewesen sein mochten. Als Cortina nämlich Hollywoods bevorzugte Winterdestination war.
Wo im Jahr 1963 „Der rosarote Panther“ mit David Niven und Peter Sellers gedreht wurde und zehn Jahre später im Jahr 1973 „Die Rivalin“ mit Elizabeth Taylor und Henry Fonda. Und wo natürlich im Winter 1980/81 der Action-Thriller „In tödlicher Mission“ entstand, in welchem Roger Moore alias James Bond mit der Gondel zur Tofana hinauffuhr und hernach Moores Stuntman auf der Flucht vor sinistren Verfolgern auf Skiern zu Tal raste, die letzten paar Hundert Meter durch den berühmten Eiskanal am Stadtrand von Cortina. Zu dieser Filmgeschichte gehört freilich auch der tragische Unfall am letzten Drehtag in der Bobbahn, als der 23 Jahre alte italienische Stuntman Paolo Rigon unter einen Rennschlitten geriet, auf dem eine der Kameras montiert war, und dabei tödlich verletzt wurde.
Die Geschichte der legendären „Pista Olimpica“ für Bob- und Rennrodelwettbewerbe ist eng mit der Geschichte des kompetitiven Wintersports in Cortina verbunden. Und sie ist zum zentralen Zankapfel mit Blick auf die Winterspiele von 2026 geworden. Denn der alte Eiskanal, ursprünglich errichtet schon 1923, mehrfach umgebaut und modernisiert, namentlich für die Olympischen Spiele von 1956 in Cortina und für diverse Weltmeisterschaften in den Jahrzehnten danach, war 2008 schließlich geschlossen worden. In den Jahren danach zerfiel die Bahn.
Erst schien eine vernünftige Lösung in Sicht
Nachdem Cortina und Mailand im Juni 2019 den Zuschlag für die Austragung der Winterspiele 2026 erhalten hatten, geschah erst mal nichts auf dem Gelände der Bob- und Rennrodelbahn, die den Namen des legendären Toblacher Bobpiloten Eugenio Monti (1928 bis 2003) trug. Denn es begann sogleich der Streit über Sinn und Zweck eines neuen Eiskanals in Cortina: Der würde viel Geld kosten, erhebliche Auswirkungen auf Natur und Umwelt haben und nach Abschluss der olympischen Wettbewerbe die meiste Zeit nutzlos herumstehen und allein zur Wartung weitere Millionen verschlingen. Eine vernünftige Lösung schien sich anzubahnen: Man würde Bobpiloten, Rennrodler und Skeletonfahrer ihre Olympiarennen in einem bereits bestehenden und bei diversen Meisterschaften erprobten Eiskanal – in Österreich, in der Schweiz oder auch in den Vereinigten Staaten – austragen lassen. Die Wettbewerbe der Winterspiele 2026 finden ohnedies an vielen verschiedenen und weit verstreuten Orten in Norditalien statt, ein Gefühl der „olympischen Familie“ wird es kaum geben.
Doch dann setzten sich der Nationalstolz der italienischen Veranstalter und der politische Wille der Mitte-rechts-Koalition in Rom durch, und es wurde in der Rekordzeit von 13 Monaten doch noch ein neuer Eiskanal gebaut. Die Kosten explodierten von den ursprünglich veranschlagten knapp 42 auf rund 120 Millionen Euro. Ende März konnten ausgewählte Athleten aus aller Welt die ersten erforderlichen Testfahrten absolvieren – mitten durch eine Baustelle am Hang der alten Bobbahn zwar, aber in einem offenkundig sehr gelungenen Eiskanal. Der für Sport zuständige Minister aus Rom und der Präsident der Region Venetien eilten zu dem Anlass herbei und priesen das „Wunder von Cortina“. Vergleiche zur ebenfalls in Rekordzeit wieder aufgebauten Autobahnbrücke in Genua wurden gezogen. „Wir haben einen verwüsteten Berghang, eine echte Müllkippe unter freiem Himmel, wiederhergestellt und dazu zehntausend Bäume gepflanzt“, sagte der Regionalpräsident Luca Zaia und sprach von einem „großartigen Ergebnis“, das die vielen Skeptiker widerlege, die ein Baufiasko vorausgesagt hätten.
Buchungsseiten fordern 11.000 Euro die Nacht
Ob der Eiskanal von Cortina sowie die anderen erneuerten Sportstätten so nachhaltig nützlich sein werden, wie nationale, regionale und lokale Politiker das behaupten, bezweifeln viele. Derweil macht sich unter Immobilienbesitzern in dem dieser Tage verschlafenen Cortina Goldgräberstimmung breit. Wer auf einschlägigen Buchungsseiten nach privaten Unterkünften für die 17 Tage der Winterspiele sucht, stößt auf phantastische Forderungen von mehr als 11.000 Euro – pro Nacht.
Da sind Fünf- und Vier-Sterne-Hotels mit Preisen fürs Doppelzimmer von 2500 beziehungsweise 1500 Euro pro Nacht sogar noch günstig. Bürgermeister Gianluca Lorenzi, der selbst im Gastgewerbe tätig ist, warnt Vermieter und Hoteliers vor zu großer Spekulationslust. Die Spiele seien Cortinas „Ticket für die Zukunft“, man dürfe Besucher des Großereignisses nicht mit Wucherpreisen vor den Kopf stoßen.
Doch das Gesetz von Angebot und Nachfrage lässt sich durch Appelle nicht außer Kraft setzen. Allein für Athleten und Betreuer braucht es mindestens 6500 Betten, für Zuschauer und Sicherheitskräfte weitere 3500. Derzeit gibt es in Hotels und Pensionen nur gut 4000 Betten. Für rund 35 Millionen Euro soll ein provisorisches Olympisches Dorf für die Athleten errichtet und nach den Spielen wieder abgebaut werden – statt es anschließend zur dauerhaften Unterbringung von Saisonarbeitern und Angestellten im Gastgewerbe zu günstigen Mietpreisen zu nutzen. Der neue Eiskanal aber wird bleiben – und sich bei zahlreichen internationalen Wettbewerben als Spitzensportstätte und Besuchermagnet bewähren, heißt es.