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Früherer Evangelikaler über die USA: „Ein Bürgerkrieg ist möglich“ | ABC-Z

Herr Onishi, Sie waren selbst jahrelang gläubiger Evangelikaler. Was brachte Sie dazu, sich davon zu distanzieren?

Ich bin als Teenager zum evangelikalen Christentum konvertiert und war schon mit 20 Vollzeitpastor. Mein ganzes Leben drehte sich um meine Kirche und meinen Glauben, mein gesamtes Weltbild war vom evangelikalen Christentum durchdrungen. Während meines Studi­ums habe ich mich dann intensiver mit Kirchengeschichte, Philosophie und Theologie beschäftigt. Dabei wurde mir klar, dass mein Glaube viel größer und vielschichtiger ist, als mir vermittelt worden war. Zusammen mit sozialen und politischen Entwicklungen wie dem Irakkrieg führte das bei mir zu einer kritischeren Haltung gegenüber dem Evangelikalismus.

Und wie würden Sie Ihren Glauben heute beschreiben?

Kompliziert. Ich bin tief in der christ­lichen Tradition verwurzelt, hinterfrage sie aber gleichzeitig kritisch.

Evangelikale werden in den USA oft mit christlichen Nationalisten in einen Topf geworfen. Wo liegt der Unterschied?

Evangelikale glauben an die wörtliche Auslegung der Bibel. Sie vertreten konservative, teils auch rückwärtsgewandte Vorstellungen von Sexualität, Familie und Geschlecht. Außerdem gibt es im Evangelikalismus ein starkes Streben nach politischer Macht – seit der Gründung der USA üben Evangelikale poli­tischen Einfluss aus. In den 1960er-Jahren schlossen sie mit konservativen Katholiken eine Allianz, die auf gemein­samen Werten bei Themen wie Abtrei­bung, Ehe und Geschlechterrollen fußt. Diese Allianz führte zu dem, was wir heute christlichen Nationalismus nennen. Er umfasst Evangelikale, Katholiken und andere christliche Strömungen und basiert auf der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten für und von Christen geschaffen wurden. Und daher po­litisch, kulturell und wirtschaftlich ein christliches Ethos haben sollten. Die Idee ist vielmehr: Weil ich an Gott glaube, gehört mir mehr von Amerika als allen anderen.

Wie groß ist der Einfluss der christ­lichen Nationalisten auf die amerikanische Politik, vor allem auf die repu­blikanische Partei?

Neben den Oligarchen, also den Ultrareichen wie Elon Musk oder Peter Thiel, haben auch christliche Nationalisten enormen Einfluss auf die amerikanische Politik. Donald Trump hat sie schon in seiner ersten Präsidentschaftskampagne 2016 gezielt umworben und versprochen, sich um ihre Interessen zu kümmern, ihre Anliegen zu vertreten und ein Abtreibungsverbot durchzu­setzen. Für christliche Nationalisten bleibt Trump deshalb die wichtigste politische Figur der jüngeren amerika­nischen Geschichte. Ihr Einfluss ist inzwischen in allen Machtbereichen spürbar: Vizepräsident J. D. Vance, Verteidigungsminister Pete Heg­seth und Mike Johnson, der Sprecher des Repräsen­tantenhauses, sind christliche Nationalisten. Und auch im Obersten Gerichts­hof dominieren christliche Nationalisten, allesamt katholische Vertreter dieser Bewegung. Es lässt sich kaum bestreiten, dass sie aktuell einen überwältigenden Einfluss auf die amerikanische Politik und Regierung ausüben.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Donald Trump verkörpert wenige christliche Tugenden. Warum versammeln sich trotzdem so viele gläubige Wähler hinter ihm?

Weil viele christliche Nationalisten in ihm einen „barbarischen König“ sehen, der ihre Feinde besiegt. Trump verspricht, Migranten zu deportieren, queere Menschen zu diskriminieren und Muslime aus dem Land zu halten. Für manchen Europäer mag das schwer zu begreifen sein – schließlich lehrt das Christentum doch Liebe und Vergebung. Aber in der amerikanischen Bewegung des christlichen Nationalismus sind diese Tugenden weitgehend verdrängt worden – zugunsten von Rache, Groll und Hass.

Auch der getötete Aktivist Charlie Kirk war ein christlicher Nationalist. Wie hat er Glaube und Politik miteinander verbunden?

Charlie Kirk steht wie kaum jemand sonst für die Verschmelzung von rechter Politik und einer bestimmten Form des Christentums in den USA. Er verkörperte die Idee, dass es nicht reicht, Gott zu lieben, zu beten oder den Menschen in der Gemeinde zu helfen. Er fand: Wenn man gläubig ist und vielleicht sogar eine Kirche leitet, sich aber nicht am Kulturkampf beteiligt, dann hat man auch nicht das Recht, sich als Christ zu bezeichnen. Für christliche Nationalisten zählt nicht mehr der Glaube an die Dreifaltigkeit oder die Menschwerdung Jesu, sondern eine klare politische Haltung: gegen Abtreibung, gegen die Demokraten, gegen LGBTQ. Kirk forderte Pastoren auf, sich diesem Kampf anzuschließen – sonst würden sie ihre Ge­meinden verlieren. Viele Kirchen, die seinem Kurs folgten, profitierten davon, während solche, die sich weigerten, an Bedeutung verloren.

Also hatte er großen Einfluss auf die evangelikalen Kirchen im Land?

Wohl niemand hatte in den letzten fünf Jahren so großen Einfluss auf evangelikale Kirchen, Zehntausende Gemeinden und Tausende Pastoren in den Vereinigten Staaten wie Charlie Kirk.

Einige Beobachter sehen in der Gedenkfeier für Charlie Kirk einen Schlüsselmoment dafür, wie stark Politik und Religion inzwischen miteinander verflochten sind. Wie beurteilen Sie das?

Das ist absolut richtig. Der Präsident selbst nahm teil und hielt eine Rede, genau wie Außenminister Marco Rubio, Verteidigungsminister Pete Hegseth und Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. Alle sprachen auf ihre Weise über Gott, seine Gerechtigkeit und sein Volk und bezogen diese Begriffe direkt auf die MAGA-Bewegung. Es war im Grunde ein christlicher Gottesdienst in Form einer politischen Kundgebung. Und er machte deutlich, was man seit fast einem Jahrzehnt beobachten kann: Die MAGA-Bewegung ist die Verschmelzung von christlichem Nationalismus und rechter Politik. Und beides lässt sich heute kaum noch voneinander trennen.

Würden Sie sagen, dass die MAGA-Bewegung die Kirche der Politik unterwirft?

Ob die MAGA-Bewegung die Kirche ihrem Willen unterwirft oder die Kirche die politische Bewegung gefunden hat, die ihren Willen erfüllt – das hängt davon ab, wen man fragt. Viele Christen sagen: Endlich gibt es eine politische Bewegung, die im Sinne christlicher Prinzipien handelt. Andere sagen: Endlich haben wir die Christen an Bord ei­ner Bewegung, die genau das ist, was wir wollten – eine Macht ohne Grenzen, einen Präsidenten mit nahezu ab­soluter Autorität. Für mich spielt es keine Rolle, ob es Henne oder Ei zuerst gab. Entscheidend ist: Beide sitzen in einem Boot und schaden der Demo­kratie.

Bradley Onishi
Bradley OnishiRudy Meyers

Ist das, was wir gerade erleben, schon der Höhepunkt des christlichen Nationalismus in den USA – oder der Beginn von etwas Größerem?

Ich denke, wir erleben gerade den Beginn eines christlichen Faschismus. Christlichen Nationalismus hat es in diesem Land seit Jahrhunderten gegeben. Aber was wir jetzt sehen, ist eine weit verbreitete und mächtige Bewegung des christlichen Faschismus. Eine Bewegung, die sich offen gegen Demokratie, Pluralismus und Vielfalt richtet. Sie ist bereit, gewaltsame und autoritäre Mittel einzusetzen, um eine faschistische Form von Regierung sowie ein entsprechendes politisches und kulturelles System in den Vereinigten Staaten zu schaffen.

Aktuell geht die Einwanderungspolizei ICE in mehreren Bundesstaaten gewaltsam gegen Migranten vor. In Chicago kommt es jeden Tag zu Festnahmen. Außerdem denkt die Trump-Regierung über eine Reform des Asylsystems nach, das weiße Flüchtlinge begünstigen würde. Ist es das, was Sie meinen?

Das ist ein Teil dessen. Das Vorgehen von ICE ist unmenschlich und richtet sich nicht gegen gewalttätige oder gefährliche Kriminelle. Die Behörde geht gegen jeden vor, den sie finden kann – US-Bürger, Inhaber von Green Cards, sogar Kinder –, und schafft damit ein Klima der Angst. Die geplante Reform des Asylsystems und die Art, wie ICE „racial profiling“ betreibt, führen dazu, dass wir in den USA eine Rückkehr zu offener weißer Vorherrschaft erleben. In der Öffentlichkeit gilt: Wer aus Lateinamerika stammt oder lateinamerikanische Wurzeln hat, wer als Migrant erkennbar ist, muss ständig Angst haben, festgenommen zu werden. Das allein ist vielleicht noch kein Faschismus. Aber es ist ein Teil dessen, was man schleichenden Faschismus in den Vereinigten Staaten nennen kann.

Beamte der Einwanderungspolizei waren auch in der Nähe von Schulen und Kirchen. Was bedeutet es, wenn Orte, die als heilig oder sicher galten, plötzlich gefährlich werden?

Ein weiteres Mal: dass wir in den Vereinigten Staaten einen erstarkenden Faschismus erleben. Historisch gab es eine klare Richtlinie für das Heimatschutzministerium und für Beamte der Einwanderungspolizei, keine Kirchen zu betreten. Wir erleben eine Situation, in der – im Namen Gottes, im Namen des Christentums, im Namen des Aufbaus einer „christlichen Nation“ – Beamte angewiesen werden, Kirchen zu betreten und dort Menschen zu terrorisieren. Wir sehen hier eine spezifische Form des christlichen Nationalismus und christlichen Faschismus, die bereit ist, die Türen von Kirchen einzutreten, die sie für „die falschen Kirchen“ hält, um Menschen zu entfernen, die sie nicht als amerikanisch betrachtet oder für nicht zugehörig hält. Das zeigt: Diese Regierung ist bereit, jede Grenze, jedes Tabu und jeden heiligen Ort zu überschreiten, um ihre Ziele mit Gewalt durch­zusetzen.

Die Gedenkveranstaltung für den ermordeten Charlie Kirk am 21. September in Glendale/Arizona glich teils einem Gottesdienst.
Die Gedenkveranstaltung für den ermordeten Charlie Kirk am 21. September in Glendale/Arizona glich teils einem Gottesdienst.Laif

Gleichzeitig gibt es Lehrer und Pasto­ren, die vor allem Kinder vor diesen Maßnahmen schützen und sogar Proteste organisieren. Es gibt also moralischen Widerstand.

Natürlich. All diese Menschen in Los Angeles, Chicago und auch anderswo leisten auf unterschiedliche Weise Widerstand. Priester, Geistliche oder Lehrer, die Menschen verstecken – sie alle üben moralischen Widerstand. Wir sehen das überall im Land, auf bewegende und inspirierende Weise. Dieser Widerstand ist notwendig, angesichts dessen, was hier gerade geschieht.

Ist das, was gerade zu beobachten ist, mit etwas Vergangenem vergleichbar?

Es gibt tatsächlich einen historischen Vergleich: den „Fugitive Slave Act“, das Gesetz über flüchtige Sklaven, das im Süden der USA vor dem Bürgerkrieg galt. Dieses Gesetz erlaubte sogenannten Kopfgeldjägern, im ganzen Land nach geflohenen versklavten Menschen zu suchen und sie zurück zu ihren „Besitzern“ zu bringen. Das Gesetz löste damals eine massive Welle des Widerstands aus. Menschen waren empört, weil diese Kopfgeldjäger in ihren Häusern, Nachbarschaften und Gemeinden auftauchten, Menschen jagten und sie terrorisierten. Dadurch entstand eine breite Volkswut gegen jene, die dieses System unterstützten, und viele gewöhnliche Bürger wurden radikalisiert.

Das war vor dem Bürgerkrieg. Glauben Sie, es besteht die Gefahr, dass die aktuellen Verwerfungen wieder in einen Bürgerkrieg münden könnten?

Ja, absolut. Ich habe schon direkt nach dem 6. Januar 2021 gewarnt, dass wir den Sturm aufs Kapitol konsequent aufarbeiten und Trump daran hindern müssen, ein zweites Mal zu kandidieren, weil wir uns sonst auf eine Situation zubewegen, in der ein Bürgerkrieg möglich ist. Ich würde es so formulieren: Im Bürgerkrieg war es so, dass sich die Konföderation – also die abtrünnigen Südstaaten – von der Union abspaltete und versuchte, die Vereinigten Staaten zu verlassen. Heute ist es anders: Statt sich abzuspalten, überziehen Trump und die „MAGA Nation“ den Rest des Landes mit einem ideologischen Angriff. Und wir erleben die ersten An­zeichen davon, dass sich Bundesstaaten dem widersetzen. Etwa, wenn Gouverneure wie J. B. Pritzker aus Illinois oder Gavin Newsom aus Kalifornien damit drohen, Bundesbeamte festzunehmen, die in ihren Staaten Menschen entführen. Wenn solche Entwicklungen Fahrt aufnehmen, stellt sich schnell die Frage: Was passiert, wenn sich einzelne Bundesstaaten faktisch nicht mehr als Teil der Vereinigten Staaten verstehen? Genau darüber reden wir dann – über Bürgerkrieg. Und das beschäftigt die Amerikaner gerade sehr. Nach der Ermordung Charlie Kirks gehörte „civil war“ zu den meistgesuchten Begriffen im In­ternet. Und das hat sich seitdem nicht geändert.

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