Kultur

Friedrich-Ausstellung „Sehnsuchtsorte“ in Greifswald | ABC-Z

Caspar David Friedrichs Bilder wollen gelesen werden wie Joseph von Eichendorffs Gedichte oder Texte der Bibel: in einem mehrfachen Schriftsinn – buchstäblich, allegorisch, moralisch, anagogisch (was oft meint: christologisch). Schaut man sich sein Gemälde „Greifswalder Hafen (Am Ryck)“ an, das er zwischen 1818 und 1820 malte, so erkennt man einen geographisch konkreten Ort: die Stadt Greifswald, in der Friedrich am 5. September 1774, also vor 250 Jahren zur Welt kam. Man sieht – von links nach rechts – die drei Hauptkirchen Sankt Marien, Sankt Nikolai und Sankt Jakobi. Man sieht fünf Fischerboote, die den Ryck aufwärtsfahren, den kleinen Fluss, der Greifswald mit der etwa fünf Kilometer entfernten Dänischen Wiek, einer südlichen Bucht des Greifswalder Boddens, also der Ostsee, verbindet. Ein größeres Segelboot liegt schon im Stadthafen. Die Brigg in der Bildmitte, das Schiff, das alles dominiert, aber lässt stutzen, wenn man genauer hinsieht.

Kommando „Fallen Anker!“

Das Bild ist ein Abendbild. Durch die Ausrichtung der Kirchen erkennt man, dass das Licht von Westen einfällt. Die Fischer kommen heim. Die Brigg aber ist bugwärts anders als alle anderen Schiffe nicht nach Westen, sondern nach Osten ausgerichtet – wie die Kirchen mit ihren Chören. Ziehen die Lotsen im angeseilten Ruderboot die Brigg aus dem Hafen? Bricht das Schiff also auf, während alle anderen heimkommen? „Nein“, erklärt uns die Ausstellung „Sehnsuchtsorte“ im Pommerschen Landesmuseum Greifswald, das sich Friedrichs Bild zum Jubiläumsjahr aus der Berliner Nationalgalerie ausgeliehen hat. Die Kuratorinnen Birte Frenssen und Henriette Maxin erläutern durch Begleittexte und ergänzende Skizzen Friedrichs, dass man an Seilen und Takelagen wie an der Position des Rudergängers am Bug sehr genau ablesen könne, dass gerade das Kommando „Fallen Anker!“ gegeben werde. Der Anker, ein altes Symbol des Glaubens, wird also nicht gelichtet, sondern er senkt sich in diesem Moment. Das Schiff kommt tatsächlich heim, ist aber nicht auf den irdischen Hafen ausgerichtet.

Zwanzig Jahre später wird Joseph von Eichendorff dichten: „O Trost der Welt, Du stille Nacht! / Der Tag hat mich so müd gemacht, / Das weite Meer schon dunkelt, / Lass ausruhn mich von Lust und Not, / Bis dass das ew’ge Morgenrot / Den stillen Wald durchfunkelt“. Während sich die Nacht über die Welt legt, richtet sich das Schiff aus auf das, was außerhalb des Bildes liegt. Friedrich hat mit Anker, Schiff, Licht, Hafen und allen Mitteln der Kunst im Grunde eine Meditation komponiert über den ersten Vers im elften Kapitel des Hebräerbriefes im Neuen Testament: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“

Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen, 1818Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart

Die Greifswalder Ausstellung geht in die Tiefe. Sie rankt sich nur um zwei zen­trale Bilder Friedrichs, den erwähnten „Greifswalder Hafen“ und die aus Winterthur entliehenen „Kreidefelsen auf Rügen“. Beim zweiten Bild erläutern hinzugefügte Entwürfe aus Friedrichs sogenanntem Osloer Skizzenbuch, wie der Maler ganz bewusst die Horizontlinie des Meeres vor den Wissower Klinken um das Doppelte anhob, um die abgründige Tiefe und die unendliche Weite in ein und dieselbe Ansicht fassen zu können. Was wir im Gemälde sehen, ist kein naturalistisches Abbild dessen, was sich dem bloßen Auge beim Blick von der rügenschen Stubbenkammer auf die Ostsee bieten würde. Es ist wiederum ein „unsichtbares“ Gleichnisbild, zusammengesetzt aus verschiedenen Aspekten der Sichtbarkeit.

Auch die Geschichte hinter dem mittig knienden Mann wird in Greifswald erzählt. Friedrich war im Sommer 1815 mit einem Dresdner Freund, dem Münzmeister Friedrich Gotthelf Kummer, an der Kreideküste wandern. Am 10. August wäre Kummer beim Klettern am Kliff beinahe abgestürzt. Friedrich holte Hilfe und ließ seinen Freund wieder auf die Uferkante ziehen. Kummer küsste dort den Boden und feierte den Tag fortan als seinen zweiten Geburtstag. Drei Jahre später besuchte Friedrich die Stelle erneut mit seiner Frau Caroline und seinem Bruder Christian sowie dessen Frau Elisabeth. Das Gemälde komponiert also autofiktional verschiedene Ereignisse aus Friedrichs Biographie zu einer neuen Geschichte.

„Wäre ich bloß zuerst nach Greifswald gekommen!“

Der Friedrich-Forschung sind diese Details natürlich alle schon bekannt, den meisten Gästen der Ausstellung jedoch nicht. Und dieses konzentrierte analytische Verfahren als Ausstellungskonzept sorgt bei vielen für ein Aha-Erlebnis. Ruth Slenczka, die Direktorin des Pommerschen Landesmuseums, berichtet von der Reaktion einer Besucherin, die nach dem Rundgang ausrief: „Ich habe die großen Friedrich-Ausstellungen in Berlin und Hamburg gesehen. Wäre ich doch bloß zuerst nach Greifswald gekommen! Ich hätte alles viel besser verstanden.“

Greifswald bettet Friedrichs Kunst ein in Pommerns Landesgeschichte, verstanden als Kultur-, Natur- und Wirtschaftsgeschichte. Friedrich hat die Kreidefelsen nicht nur gemalt, sondern auch die Abdrücke und Fossilien „der Creaturen des Meeres gar mancherlei Art, wie sie leben und wie sie gelebt haben vor Jahrtausenden und zu Stein geworden sind“, studiert, wie er schreibt. Der Rügener Pastor Bernhard Olivier besaß eine riesige Sammlung von Gesteinen, Fossilien und archäologischen Funden, die Friedrich bereits 1806 eingehend betrachtet hatte.

Aus der gleichen Sammlung empfing zehn Jahre später – genau zur der Zeit, als Friedrich malerisch mit der Kreideküste beschäftigt war – der Naturwissenschaftler und Prähistoriker Friedrich von Hagenow den Anstoß, die Fossilien in der Kreide zu erforschen. Hagenow entwickelte an der Universität Greifswald aus der damals beliebten Camera lucida – einem Prisma in einer Halterung, das zeitgleich die Betrachtung eines Objekts durch das Auge und dessen Reflexion auf ein Zeichenpapier ermöglichte – den „Dikatopter“, mit dem er vergrößerte Zeichnungen von Fossilien anfertigen konnte. Die Greifswalder Ausstellung erzählt auch Hagenows Geschichte und dokumentiert, wie sich die forscherische Anschauung der Kreide wieder bildnerisch niederschlug. Zugleich pachtete Hagenow 1852 alle Rügener Kreidebrüche und eröffnete in Greifswald eine Schlämmkreidefabrik, aus deren Rückständen er mehr als 100.000 Fossilien für die eigene Forschung gewann. Gelöscht wurde die Fracht im Greifswalder Hafen.

Der im Februar verstorbene Geobotaniker und Pflanzenökologe Hansjörg Küster, dessen großartiges Buch „Die Ostsee“ vor über zwanzig Jahren Kulturgeschichte und Naturgeschichte dieses Meeres vorbildlich zusammenführte, hätte seine Freude an dieser Ausstellung gehabt.

Caspar David Friedrich. Sehnsuchtsorte. Kreidefelsen auf Rügen & Greifswalder Hafen. Pommersches Landesmuseum Greifswald; bis zum 6. Oktober. Kein Katalog.

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