Friedenspreis für Karl Schlögel: Europa muss von der Ukraine lernen | ABC-Z

Der Rede ist nicht nur anzumerken, dass sie in einer Situation der Spannung geschrieben wurde. Man hört auch den Zwiespalt, den sie selbst verkörpert. Karl Schlögel, der bereits vielfach preisgekrönte Historiker und Beobachter des östlichen Europas, hat am Sonntagvormittag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegengenommen – bewegt, aber auch sichtlich beunruhigt.
Das Thema, dem er Berühmtheit und Preis verdankt, jene „tödliche Zone zwischen dem Reich Hitlers und dem Stalins“, in der wieder Bomben fliegen und russische Drohnen auf Menschenjagd gehen, ist der Ort, so sagt er in seiner Dankesrede gleich zu Beginn, an dem die europäische Nachkriegszeit ihr Ende gefunden hat und das „Tor zu einer neuen Vorkriegszeit“ aufgestoßen wurde.
Sich wieder auf Krieg in Europa einstellen
Seit 2014, dem russischen Überfall auf die Krim, ist Karl Schlögel damit befasst, die Ukraine – vor allem ihre Städte –, die ein „weißer Fleck“ auf der mentalen Karte der meisten Westeuropäer war, ins Bewusstsein zu heben. Er selbst gestand damals öffentlich ein, in seiner Faszination für die russischen Metropolen den großen Raum zwischen Charkiw und Kiew, Mariupol und Lwiw vernachlässigt zu haben; ja, im Vertrauen auf die russische Gesellschaft nicht vorbereitet gewesen zu sein auf das Unheil, das schließlich aus Moskau kam.
„Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, dessen Erforschung ich Jahre meines Lebens gewidmet hatte“, sagte er am Sonntag in der Paulskirche rückblickend. Er stehe damit nur stellvertretend für eine „friedensverwöhnte Generation“, die sich nun „unerhört schwertut, Abschied zu nehmen und sich auf den Krieg in Europa und alles, was damit zusammenhängt, einzustellen“.
Vom Beobachter zum Mahner
Für Schlögel bedeuteten dieser Bruch und Einbruch von Erfahrung vor allem auch einen Bruch der Methode und der eigenen Rolle. War er, wie ihn die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, in ihrem Grußwort nannte, bis 2014 der „Beobachter an der Seitenlinie“, der sich in die Geschichte einer fremden Welt des Lebens einarbeitete, indem er „Gerüche und Geschmäcker, Land und Leute“, Stadtpläne und Telefonbücher studierte, um den Raum, den er stets selbst erkunden musste, zu lesen, ließ der Krieg die Fortführung dieser Art der Forschung nicht mehr zu. Schon praktisch nicht: Er, der Russland wie kaum ein anderer kenne, könne nicht mehr dorthin reisen, ohne seine Verhaftung zu riskieren.

Doch nicht nur das. Der Historiker, dessen „Schreiben von den klassischen Formen der Geschichtswissenschaft abweicht“, um eine Erzählweise für das zu finden, was unterhalb der großen Politik, im Alltag der Menschen, stattfindet, wie es die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja in ihrer Laudatio beschrieb, war plötzlich damit konfrontiert, sich den Haupt- und Staatsaktionen zu widmen, die von den „großen Männern“ in Washington und vor allem Moskau ausgingen.
Statt einfühlsam zu beschreiben, musste er nun immer mehr warnen, anklagen, Grenzen ziehen, in die Rolle des Mahners schlüpfen – auch angesichts einer deutschen Öffentlichkeit, der es in der russisch-ukrainischen Frage an Klarheit und moralischer Aufrichtigkeit mangelte.
Von den Ukrainern lernen heißt vielleicht siegen lernen
Seine Dankesrede am Sonntag hielt er auch in diesem neuen Geist: „Es ist erstaunlich, wie lange es in Deutschland gedauert hat, gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat.“ Noch immer sei man dieser „Gestalt des Bösen“ nicht gewachsen – ganz im Gegensatz zu den Ukrainern, die, unter tausendfachem Einsatz ihres Lebens, ihre Freiheit und Unabhängigkeit, ja die Existenz Europas, verteidigten. Von ihnen müsse man lernen, so Schlögels deutliche Worte an diesem „Hotspot des europäischen Völkerfrühlings von einst“, was Widerstand und Tapferkeit heiße. Sie erinnerten uns daran, „wofür Europa einmal gestanden hat“.
Und so, eben das ist das Zwiespältige der Weltlage, aber auch der Situation Karl Schlögels, muss der große Historiker des gesamteuropäischen Zusammenlebens, der nicht nur, aber auch russischen Urbanität, der Träger des Preises, der dem Frieden gewidmet ist, damit schließen, von der Ukraine zu lernen, heiße „vielleicht auch siegen lernen“.





















