Kultur

Fresken in der Sixtinischen Kapelle liturgisch falsch ausgerichtet | ABC-Z

Im Jahr 1508 erhielt Michelangelo von Papst Julius II. den Auftrag, die Decke der Sixtinischen Kapelle neu zu bemalen. Das sollte aber nur der Beginn einer Neuausmalung des gesamten Raumes sein. Der Papst wollte nämlich auch die Wandfresken, die sein Onkel Sixtus IV. in Auftrag gegeben hatte, abschlagen lassen. Dafür gab es bereits einen Kostenvoranschlag, wie Giorgio Vasari in seiner Lebensbeschreibung Michelangelos berichtet.

Das neue Deckenbild war nötig, weil das Gewölbe mit seinem Sternenhimmel in schlechtem Zustand war. Aber warum wollte Julius die erst 25 Jahre alten Wandbilder beseitigen? Diese Frage hat die Kunstgeschichtsschreibung bisher kaum gestellt. Dabei ist die Antwort klar: Die Seiten des Freskenzyklus sind falsch verteilt. Die Szenen aus dem Leben Christi befinden sich, wenn man zum Altar blickt, rechts. Das ist aber in der traditionellen römischen Liturgie die „Epistelseite“, auf der Lesungen aus den Episteln, das heißt den Briefen der Apostel, sowie Lesungen aus dem Alten Testament vorgetragen werden. Dorthin gehören eigentlich die Mosesszenen.

Sie befinden sich jedoch links auf der „Evangelienseite“, wo der Diakon das Evangelium singt. Die Seitenverteilung der Zyklen sollte umgekehrt sein. So erfordert es die Kongruenz von Bildausstattung und Liturgie. Würde man den Altar von der West- an die Ostwand versetzen, wäre alles richtig. Man kann es auch anders sagen: Pietro Perugino, Sandro Botticelli und die anderen Maler nahmen an, der Altar solle im Osten stehen, wie es der überkommenen christlichen Gebetsrichtung entspricht.

Es gibt keinen zwingenden Grund für die Westausrichtung der Sixtina

Die Westausrichtung der Sixtina wird oft mit der Westausrichtung der Peterskirche erklärt. Aber dort steht der Papst hinter dem Hauptaltar und betet Richtung Osten. Nicht in der Sixtinischen Kapelle. Ihre Westausrichtung erklärt sich aus ihrer Vorgängeranlage, der „Cappella magna“. Innozenz III. hatte sie um 1200 nach dem Vorbild des Jerusalemer Tempels erbaut, dessen Maßverhältnisse von eins zu drei und dessen Westausrichtung er dem Alten Testament entnommen hatte.

Als Sixtus IV. daranging, diese Anlage zu erneuern, wollte er die Kapelle nach Osten ausrichten. Dafür hätte man allerdings neue Zugangswege gebraucht. Der alternde Papst wartete aber nicht ab, bis diese fertig wurden, sondern verzichtete im letzten Moment auf die Ostung und ließ den Altar doch im Westen errichten. Neue Fresken wurden nicht gemalt. Dafür hätten Zeit und Geld nicht gereicht.

Das alles wird in den Standardwerken zur Sixtina nicht behandelt. Dabei klären sich, wenn man die Ostung berücksichtigt, viele Probleme. Eines davon ist der Standort des Papstthrons. Er steht inhaltlich unpassend unter den Mosesfresken. Stünde aber der Altar im Osten, wäre der Platz des Throns unter dem Fresko der „Schlüsselübergabe an den heiligen Pe­trus“. Dieses höchstrangige Bild, auf dem die Stifterinschrift von Sixtus IV. angebracht ist, befindet sich heute im Laienbereich im hinteren Teil der Kapelle.

Beim Fußboden scheint es sich auf den ersten Blick anders zu verhalten, denn er ist im Westen aufwendiger gestaltet als im Osten. Aber dort wählte man deshalb eine einfache Gestaltung, weil damals das Zeremoniell vor dem Altar grüne Teppiche vorschrieb. Hingegen sollte der westliche Fußbodenbereich immer sichtbar bleiben, folglich erhielt er die reicheren Ornamente. Sie verschwanden unter grünen Teppichen, bis Paul VI. in den Sechzigerjahren die traditionelle Papst­liturgie abschaffte.

Auch die Sixtina-Sänger waren „not amused“

War die Ornamentik des Fußbodens für die Nutzung der Kapelle unerheblich, bereitet die Sängerempore praktische Schwierigkeiten. Heute ist sie zu weit vom Altar entfernt. Hingegen wäre sie ideal positioniert, hätte man die Ostung verwirklicht. Wie ungünstig ihre jetzige Lage ist, belegt ein Dokument von 1615. Damals protestiert das sixtinische Sängerkollegium, als man für die neue Cappella Paolina im päpstlichen Quirinalspalast eine Empore nach dem Vorbild der vatikanischen plant. Das lehnen die Sänger ab. In der Sixtina seien sie zu weit vom Altar entfernt, sie könnten daher ihren Gesang nicht ausreichend mit dem liturgischen Geschehen, das sich dort ereignet, koordinieren.

Schöne Täuschung: Seit fünfhundert Jahren lenken Michelangelos Decken- und Westwandmalereien von dem Makel ab, dass der Papstthron nicht wie ursprünglich geplant unter dem Petrusfresko steht.dpa

Auch die marmorne Schrankenanlage verlor durch den Verzicht auf die Ostung ihren richtigen Standort. Die Schranke teilt die Kapelle in einen Altarraum und einen Laienbereich. Nachdem man die Kapelle „umgedreht“ hatte, war aber am Altar zu wenig Platz, weshalb man die Schranke nach Osten versetzte. Stand sie logischerweise zuerst dort, wo die beiden Dekorationssysteme des Fußbodens zusammenstoßen, stört sie jetzt die Ornamentik des östlichen Bereichs. Doch nicht nur das. Die Schranke war ursprünglich mit der Sängerempore verbunden und trug sieben Kandelaber, die bei hochfeierlichen Anlässen sieben Kerzen trugen. Nach der Versetzung stand die Schranke allein im Raum, und aus Symmetriegründen stellte man dort, wo die Empore sie überragt hatte, einen unnötigen achten Kandelaber auf. Er blieb immer leer.

Die Entscheidung für die Ostung wurde aufgegeben, weil Sixtus IV. die Kapelle bald nutzen wollte und die Zeit nicht mehr ausreichte, um neue Zugangswege im Westen zu schaffen. Der Papst hatte den Tod vor Augen und akzeptierte die Probleme der Westausrichtung, unter anderem die nunmehr falsche Verteilung der Fresken. Aber man darf den geringen theologischen Stellenwert der letztlich nur dekorativen Wandbilder nicht vergessen. Kein kirchliches Gesetz schreibt sie vor, und für die Liturgie braucht man sie nicht. Julius II. hätte sie später zwar gern abgeschlagen, doch auch ihn drängte die Zeit. Außerdem konnte er unmöglich auch noch die Sixtinische Kapelle zu einer Dauerbaustelle machen, nachdem er schon die alte Peterskirche hatte abreißen lassen. Da war es vernünftig, Michelangelo freie Hand für ein Deckenfresko zu geben, das alles Frühere überblenden würde. Später kam noch Michelangelos Fresko des Jüngsten Gerichts hinzu, für das sogar wirklich die älteren Fresken an der Westwand beseitigt wurden.

Insgesamt entstand ein unvergleichliches Ensemble, das ohne die planwidrige Umorientierung der Kapelle wohl kaum verwirklicht worden wäre. Allerdings besitzt dieses Ensemble kein einheitliches und in sich geschlossenes Bildprogramm. Ein solches konnte es schon aus dem Grund nicht geben, weil die Fresken Sixtus’ IV. auf einen geosteten Raum abgestimmt sind und sie deshalb zur heutigen Westausrichtung der Kapelle nicht mehr passen. Doch das hat die Kunstgeschichtsschreibung bei ihrer Suche nach einem möglichst komplexen Bildprogramm der Sixtina nicht bemerkt.

Back to top button