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French Open Finale: Zwei junge Tenniskönige schreiben Geschichte | ABC-Z

Ganz am
Ende, nach der letzten unglaublichen Wendung dieses unglaublichen Spiels, die
Spieluhr war bei 5 Stunden und 29 Minuten stehen geblieben, so lang hatte kein
Endspiel bei den French Open jemals gedauert, ganz am Ende also standen Carlos Alcaraz, der
Gewinner
, und Jannik Sinner, der Verlierer, nebeneinander. Der eine mit
einem großen silbernen Pokal, der andere mit einem silbernen Teller. Zwei junge
Männer, die einander herzlich gratulierten und keine Worte fanden für die
Tennisgeschichte, die sie gerade geschrieben hatten.

Alcaraz
gegen Sinner – was war über dieses Spiel vorab nicht alles gesagt worden. Ein
Blockbuster, ein Wendepunkt, der Beginn einer neuen Ära. Die Nummer eins gegen die
Nummer zwei der Welt, fast zwangsläufig war das Turnier in Paris auf dieses Duell
zugelaufen. Und doch war es eine Premiere. Denn zum ersten Mal trafen die
“beiden jungen Könige des Tennis” (L’Équipe) in einem Grand-Slam-Finale aufeinander.

Die beiden
jungen Könige des Tennis: Carlos Alcaraz ist 22, Jannik Sinner nur ein Jahr
älter. Alcaraz hat seit Sonntag, seit
seinem Finalsieg gegen Sinner (4:6, 6:7 (4), 6:4, 7:6 (3), 7:6 (10:2)) und
seiner Titelverteidigung in Paris
, fünf Grand-Slam-Turniere gewonnen,
Sinner drei. Gemeinsam holten sie die letzten sechs Titel bei den vier großen
Turnieren in Melbourne, Wimbledon, New York und Paris. Beide, da sind sich die
Experten einig, werden die nächsten Jahre, vielleicht das nächste Jahrzehnt des
Tennissports dominieren. Entsprechend groß waren die Erwartungen vor diesem
Finale.

Sinner und
Alcaraz beginnen mit großer Intensität, das erste Spiel dauert gleich zwölf
Minuten. Nach einer halben Stunde steht es erst 2:2. In dieser Zeit hatte der
Italiener in den ersten Runden meist schon den ersten Satz gewonnen. Den gewinnt
er auch gegen Alcaraz (6:4), aber er braucht dafür eine gute Stunde. Der
Spanier ist anfangs der offensivere, drängendere Spieler und liegt früh mit
einem Break in Führung. Aber am Ende des ersten Satzes unterlaufen ihm zu viele
einfache Fehler.

Zwei ähnliche Typen – die sich doch wesentlich unterscheiden

Sinner
dagegen bleibt ganz bei sich. Er kontert Alcaraz’ Angriffe mit einer
atemberaubenden Geschwindigkeit und übernimmt mehr und mehr selbst die
Initiative. Schnell führt er mit 5:2 im zweiten Satz, bevor Alcaraz ein erstes
Mal zurückkommt. Trotzdem gewinnt Sinner auch den zweiten Satz, im Tiebreak mit
7:4. Bis hierhin hat er im ganzen Turnier noch nicht einen Satz verloren. Aber
das Spiel schaukelt sich jetzt hoch. Vor allem Alcaraz schaukelt sich jetzt hoch.

Die großen
Rivalen der jüngeren Tennisgeschichte waren oft sehr verschiedene Charaktere. Der
eiskalte Borg gegen den hitzigen McEnroe, der glamouröse Agassi gegen den
braven Sampras, oder Federer, der Ästhet, gegen Nadal, den Schmerzensmann: Oft
hatten diese Auseinandersetzungen einen Zug ins Grundsätzliche.

Alcaraz
und Sinner hingegen sind auf den ersten Blick ähnliche Spielertypen. Beide
verfügen über ein technisch fast vollständiges Repertoire. Beide können ihre
Grundschläge enorm beschleunigen, auch beim Return. Und beide versuchen, ihren
Gegner zu dominieren. Alcaraz variiert dabei etwas mehr, Sinner ist konstanter.
Doch die Unterschiede sind nicht groß. Das zeigt sich auch darin, dass die
Frage, wer aufschlägt und wer returniert – im Tennis oft entscheidend – an
diesem Sonntag in Paris fast zweitrangig ist. Sinner verliert im dritten Satz
insgesamt dreimal seinen Aufschlag, Alcaraz zweimal. 6:4 für den Spanier.

Der wesentliche
Unterschied zwischen den beiden liegt nicht in der Spielanlage. Man kann im
Tennis grob gesprochen zwei Typen unterscheiden. Es gibt Spieler, die die
Emotionen suchen; und es gibt solche, die ihre Stärke daraus ziehen, dass sie möglichst
wenig Gefühle an sich heranlassen. Und auf keinen Fall Gefühle zeigen. Alcaraz
gehört in die erste, Sinner in die zweite Kategorie.

Je länger das Match dauert, desto irrer werden die Ballwechsel

Im vierten
Satz führt Sinner mit 5:3, Alcaraz schlägt auf und liegt 0:40 hinten. Der
Italiener hat drei Satz- und damit Matchbälle, alle Fotografinnen und
Fotografen haben ihre Objektive bereits auf ihn gerichtet. Aber Alcaraz wehrt
den ersten Matchball ab, den zweiten und auch den dritten. Er gewinnt sein
Aufschlagspiel, anschließend gleicht er zum 5:5 aus. Das Stadion steht, Alcaraz
ballt die Faust. “Carlos, Carlos” tönt es von den Rängen. Beim nächsten
Seitenwechsel spielt die Stadionregie ein Chanson von Charles Aznavour ein.
Sinner zeigt keine Regung. Auch nicht, als Alcaraz den folgenden Tiebreak
gewinnt und zum 2:2 nach Sätzen ausgleicht. Mittlerweile sind 4 Stunden und 13
Minuten gespielt.

Jannik
Sinner gleicht auf dem Platz einem Künstler, der sein Publikum zum Staunen
bringt, aber mit seinem Werk allein lässt. Sein Spiel hat oft etwas
Überwältigendes. Carlos Alcaraz hingegen lädt die Zuschauenden ein und lässt
sie Anteil haben am Auf und Ab seines Spiels. Im fünften Satz geht es für ihn fast
nur noch auf.

Alcaraz
führt früh mit einem Break. Beim Stand von 5:3 schlägt er selbst auf. Aber wie
gesagt, wer aufschlägt, spielt an diesem Sonntag eine nachgeordnete Rolle. Und
nun ist es Sinner, der dem Spiel die nächste dramatische Wende gibt und noch
einmal ausgleicht. Je länger das Match dauert, desto irrer werden die
Ballwechsel. Einmal spielt Alcaraz einen Stopp, Sinner erläuft ihn, spielt den
Ball an seinem Gegenüber vorbei. Aber Alcaraz gelingt es, Arm und Schläger so
zu verdrehen, dass er den Ball trotzdem noch einmal zurückschlagen kann und den
Punkt gewinnt.

Auch der
fünfte Satz wird im Tiebreak entschieden. Auf der Videoleinwand wird Andre
Agassi eingeblendet, der kurz darauf den Siegerpokal überreichen wird. Der
frühere French-Open-Gewinner schaut mit ungläubigem Staunen auf das, was vor
ihm geschieht. Mit einem letzten Passierschlag verwandelt Carlos Alcaraz seinen
ersten Matchball und fällt in den roten Sand. Der Spanier hat gewonnen. Die
beiden jungen Könige haben Geschichte geschrieben.

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