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Freie Demokratische Partei-Chef Christian Lindners falsche Götzen: Javier Mileis argentinisches Wirtschaftswunder ist pure Fiktion | ABC-Z

So weit ist es schon: FDP-Chef Lindner nennt Argentiniens Präsident Milei und Tech-Milliardär Musk als Orientierungspunkte. Kann Deutschland tatsächlich etwas von den beiden lernen? Nein. Wobei, das kommt wohl auf die Perspektive an.

Muss Deutschland “ein kleines bisschen” mehr Javier Milei und Elon Musk wagen? FDP-Chef Christian Lindner kokettiert mit dem Namen des argentinischen Präsidenten sowie des Tech-Milliardärs. Ihn beeindrucke deren “Kraft zur Disruption” und “Wende”, wenn ein Abstieg drohe, verteidigte Lindner die Nennung der beiden als mögliche Vorbilder gegen Kritik. Die kam auch aus der eigenen Partei. Der ehemalige Bundesfinanzminister räumte ein, so ehrlich war er, ihm sei “die Scharfkantigkeit” beider Personen bewusst.

Das ist mindestens höflich untertrieben: Für Milei ist der Staat seiner südamerikanischen Heimat der Feind. Er würde ihn am liebsten zerstören, wie er selbst sagt. Musk soll ein paar Tausend Kilometer weiter nördlich für den kommenden US-Präsidenten Donald Trump den Staatshaushalt rigoros zusammenstreichen und wird durch die Privatisierung bisheriger Staatsaufgaben aller Voraussicht nach zum noch reicheren reichsten Menschen der Welt.

Eines hat Lindner mit seinem Fingerzeig über den Atlantik bereits erreicht – es wird weniger über die Krise der FDP geschrieben und gesprochen. Das “Handelsblatt” veröffentlichte einen Gastbeitrag des Ex-Finanzministers, indem er sich erklärte. Das “Regulierungsdickicht”, “überbordende Bürokratie” und ein “zu groß gewordener Staat” seien das Problem in Deutschland. Milei und Musk “nicht im Detail zu analysieren zu wollen, wäre angesichts der Lage unseres Landes eine Arroganz, die wir uns nicht mehr leisten können.”

Ist für die rigorose Schuldenbremse: FDP-Chef Christian Lindner. Ist für die rigorose Schuldenbremse: FDP-Chef Christian Lindner.

Ist für die rigorose Schuldenbremse: FDP-Chef Christian Lindner.

(Foto: dpa)

Diese Details zeigen bislang: Musk und Milei taugen nicht als Vorbilder. Dass Lindner von ihnen “lernen” möchte, sagt eher etwas über ihn selbst aus. Welche Auswirkungen Musks Rolle in den USA haben wird, kann man sich bislang nur ausmalen. Das Ergebnis ist unbekannt. Der libertäre Milei hingegen hat nun ein Jahr an der Spitze Argentiniens hinter sich. Könnte die Vorgehensweise des selbst ernannten Anarchokapitalisten mit der Kettensäge ein Vorbild für Deutschland sein? Ein Tabula-Rasa-Moment, in dem alles Staatliche auf den Prüfstand kommt? Das kommt auch darauf an, worauf man blickt – und mit welchen ethischen Leitlinien.

Höchste Armutsrate seit zwei Jahrzehnten

Milei hat Argentiniens Staatshaushalt um fast ein Drittel gekürzt und das südamerikanische Land so aus dem Defizit geholt. Dabei profitiert er von der Inbetriebnahme einer enorm wichtigen Gas-Pipeline, ein im Juli 2023 fertig gestelltes Infrastrukturprojekt seines Amtsvorgängers von den Peronisten. Nicht mehr nötige Importe ersparen dem Staat mehrere Milliarden US-Dollar jährlich. Im Energiesektor und Bergbau haben verschiedene Unternehmen neue Investitionen angekündigt, nachdem Mileis Regierung für Projekte im Wert ab 200 Millionen US-Dollar Steuererleichterungen und weitreichende Garantien eingeführt hatte; die sind vorrangig für Rohstoffförderer und -exporteure interessant, also potenziell ohne Wertschöpfung und entsprechende Jobs. Der größte Geldbatzen kommt bislang vom staatlichen Energiekonzern YPF. Aber wer weiß, was da noch kommt.

Zu welchem Preis? Der Staatshaushalt wurde insbesondere auf dem Rücken der Rentner, der Niedrigverdiener, der Universitäten und der Beschäftigten im kulturellen Sektor geschrumpft. Die Armutsrate in Argentinien wird aktuell auf 50 Prozent geschätzt; das sind rund 8 Prozentpunkte mehr als Ende 2023 und ist der höchste Anteil seit 20 Jahren. Die Tendenz war zuletzt leicht fallend. Aber nicht bei der Kinderarmut: 65,5 Prozent (!) leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Untere Einkommensschichten bekommen tendenziell mehr Kinder, was einen Hinweis darauf gibt, wer unter Milei überproportional zu kämpfen hat. Mehr als die Hälfte der Argentinier sagt, ihnen gehe es schlechter als vor einem Jahr.

Milei hat nach seinem Amtsantritt öffentliche Bauprojekte fast komplett gestoppt. Die Wirtschaft ist um rund 3 Prozent geschrumpft. Wären nicht der Bergbaubereich und die Landwirtschaft in guter Verfassung, sähe es noch schlechter aus. Ohne den Agrarsektor wären es 4,2 Prozent Minus. Von den registrierten Jobs gingen 2,7 Prozent verloren. Der Bausektor und der Handel sowie die Industrie, wo allein rund 40.000 Jobs vernichtet wurden, sind vorrangig betroffen.

Die Grundrenten sind um etwa 14 Prozent geschrumpft. Die wichtigen, öffentlichen Universitäten – wer kein Geld hat, benötigt die gebührenfreien Angebote umso mehr – bekamen 2024 weniger als ein Drittel ihres Vorjahresbudgets und haben damit gravierende Probleme. Das Mietrecht hat Milei in Tabula-Rasa-Manier abgeschafft. Immobilienbesitzer machen mit ihren Mietern seither, was sie wollen.

Die Inflation unter Milei war insgesamt leicht höher als im letzten Jahr unter der Vorgängerregierung, hat sich aber zuletzt deutlich beruhigt. Das ist auf den ersten Blick ein Erfolg, da der Staat nicht mehr Geld druckt, wie er es braucht, aber: Es liegt auch am Angebot-Nachfrage-Prinzip. Die Löhne kommen der Inflation weiterhin nicht hinterher, die Menschen haben weniger Kaufkraft und ächzen unter enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten.

“Die Regierung hat eine sehr starke, orthodoxe Anpassung (..) mit hohen sozialen Kosten vorgenommen”, fasst das argentinische Wirtschaftsinstitut CEPA in seiner Analyse das erste Amtsjahr Mileis zusammen. Grob gesagt: Je niedriger das Einkommen, desto negativer waren die Auswirkungen. Die Kaufkraft von legal Beschäftigten ist im Schnitt um mehr als 8 Prozent geschrumpft, die andere Hälfte der Bevölkerung arbeitet schwarz und musste 13 Prozent Verlust hinnehmen. Der Mindestlohn beträgt etwa 250 Dollar. Als extrem arm gilt ein Vierpersonenhaushalt mit weniger als umgerechnet 400 Dollar Monatseinkommen. 12 Prozent der Bevölkerung fallen in diese Kategorie. Über die Armutsgrenze gelangt eine Familie mit mehr als 900 Dollar. An all dem ist abzulesen, wie prekär die Lebenssituation der Hälfte der Argentinier ist.

“Satanischer” Sozialismus

Keine Frage, die Lage hat nicht nur mit Mileis Kettensäge zu tun. Auch der Bürgerliche Mauricio Macri und die Peronisten, die in den vergangenen zehn Jahren im Regierungspalast saßen, tragen Verantwortung. Milei hatte nach seiner Wahl angekündigt, das erste Jahr werde das härteste. Womöglich deshalb haben die Argentinier noch Geduld mit ihrem exzentrischen Präsidenten, etwa die Hälfte steht derzeit hinter ihm. Aber so häufig es Trump-Jünger und andere Wirtschaftsliberale auch in die Welt posaunen: Von einer Erfolgsgeschichte oder gar einem Wirtschaftswunder ist das Land weit entfernt. Es gebe “ernsthafte Zweifel an der Nachhaltigkeit” der neuen Wirtschaftspolitik, schreiben die Analysten bei CEPA, halten sogar eine Deindustrialisierung für möglich.

Es ist also zu früh, belastbare Schlüsse zu ziehen, ob der Kahlschlag des Staates das krisengeschüttelte Argentinien “Great Again” machen kann, wie Milei mit Trump scherzte. Bislang sieht es so aus, als würde vom vorhandenen Geld schlicht mehr nach oben fließen. Bleibt es so, würde es eine Geschichte wie so häufig im postkolonialen Südamerika: Eine Elite verdient, der Rest muss sehen, wo er bleibt. Was Milei manisch als “satanischen” und “krebserregenden” Sozialismus beschimpft, ist in Deutschland größtenteils staatliche Daseinsvorsorge, die wohl kaum jemand missen möchte.

Argentinien hatte lange eine für die Region ungewöhnlich breite Mittelschicht, war aber trotzdem kein mit Deutschland vergleichbares Industrie-, sondern ein Schwellenland. Noch heute lebt der Staat auch von Ausfuhrzöllen auf Agrarexporte. Die aktuellen gesellschaftlichen Umwälzungen, auf die laut Milei eine goldene Zukunft folgen wird, erzeugen laute Nebengeräusche. Die Polizei erstickt Proteste auf der Straße mit autoritärer Hand und Pfefferspray, Gewerkschaften dürfen nur noch eingeschränkt Betriebe bestreiken. Was in dem historisch so streitlustigen Land geschieht, falls sich die Situation nicht bessert, steht in den Sternen.

Bei der argentinischen Ausgabe der konservativen CPAC-Konferenz aus den USA, bei der mit Lara Trump auch die Parteichefin der US-Republikaner sprach, präsentierte Milei Anfang Dezember seine mit Kriegsvokabular versehenen politischen Prinzipien. Die “Kulturschlacht” sei eine Pflicht, mahnte er: “Die einzige Art, den Sozialismus zu bekämpfen, ist von rechts.” Er schloss mit einem martialischen Aufruf: “Wir verteidigen eine gerechte und edle Sache, viel größer als wir selbst. Wir sind nur Werkzeuge und müssen bereit sein, unser Leben zu geben.” Als Mileis Partei die Prinzipien-Liste veröffentlichte, garnierte sie die zehn Punkte absurderweise mit einem Zitat von Lenin: “Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.”

Eine Elite profitiert

Ist das also die “Kraft zur Disruption”, von der Lindner so beeindruckt ist und die er sich für Deutschland wünscht? Geht sein “kleines bisschen Milei und Musk wagen” über die üblichen Steuersenkungen für Unternehmen, Bürokratieabbau und strikte Einhaltung der Schuldenbremse hinaus, die er fordert? Denn “Disruption” ist viel mehr. Der Begriff beschreibt in der Wirtschaft den Prozess, wenn neue Unternehmen etablierte Geschäftsmodelle der anderen zugunsten der eigenen brechen. Bekannte Beispiele sind Uber gegen Taxiunternehmen, Amazon gegen Buchhändler, Krypto gegen Banken.

Man kann diskutieren, ob dies langfristig gut ist oder nicht, aber eines ist klar: Derzeit begünstigt es Monopol- und Oligopolbildung, häufig im Ausland. Davon profitiert eine Elite, aber auch wenn sie in Deutschland sitzen sollte, bestimmt nicht die breite Bevölkerung. Es mag für die Wirtschaft gut sein, Bürokratie abzubauen und Investitionsanreize zu schaffen. Es spricht auch nichts dagegen, nach neuen Ideen Ausschau zu halten. Aber am Rio de la Plata wird Lindner sie nicht finden.

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