Frauke Brosius-Gersdorf bei Markus Lanz: Neutralität heißt nicht Indifferenz | ABC-Z

Es sollten drei Bundesverfassungsrichter gewählt werden. Im Richterwahlausschuss des Bundestags hatte man sich auf die entsprechenden Personen geeinigt. Über eine Kandidatin sind Parlament und Öffentlichkeit jetzt aber so tief zerstritten, dass von einer Regierungskrise die Rede ist.
Gegen die rechtswissenschaftliche Qualifikation der Potsdamer Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf liegen keine Beschwerden vor. Was gegen sie eingewendet wird, sind manche ihrer rechtsdogmatischen Positionen und rechtspolitischen Vorstellungen. Die waren lange bekannt, und insofern wäre Lesen eine gute Methode gewesen, um herauszufinden, was Brosius-Gersdorf über den Schwangerschaftsabbruch, das Ehegattensplitting, das ins Genderdeutsch umgeschriebene Grundgesetz, das Kopftuchtragen von Richterinnen, das AfD-Verbot oder das Renteneintrittsalter denkt.
Das soll eine Fanatikerin sein?
Das alles sind Reizthemen, wie überhaupt derzeit alles zum Reizthema zu werden scheint. Die Staatsrechtlerin nimmt zu ihnen so klar wie pointiert und also kontrovers Stellung. Das ging soeben noch einmal aus dem Gespräch hervor, das der Talkshow-Gastgeber Markus Lanz mit ihr führte. Brosius-Gersdorf bestritt dort, was ihr nachgesagt wird: die Rechte der schwangeren Frau bis kurz vor dem Kreißsaal über die des werdenden Kindes zu stellen. Eine ekelhafte Kampagne hatte versucht, sie als eine hemmungslose Befürworterin von Abtreibung darzustellen. Eine Fanatikerin oder auch nur Ideologin aber zeigte uns die Sendung nicht. Nicht gefragt allerdings wurde Brosius-Gersdorf von dem ebenfalls nur begrenzt lesenden Moderator nach dem Spektrum der Gründe, das ihrer Ansicht nach eine späte Abtreibung rechtfertigen würde und ob für sie ausschließlich Gefährdungen des Leibeswohls der Mutter eine solche Rechtfertigung liefern könnten.
So oder so, Frauke Brosius-Gersdorf war keine unbekannte Größe. Desto unverständlicher ist es, dass der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, Jens Spahn, nonchalant oder durch anderes abgelenkt, meinte, nicht prüfen zu müssen, wie einverstanden erhebliche Teile seiner Fraktion mit der Kandidatin waren. Wie ein politischer Amateur, der die Fraktion mit einem Ministerium verwechselt, unterstellte er fraglose Folgebereitschaft. Doch Abgeordnete sind kein Stimmvieh.
Richter sind keine Politiker
Wenn sie sich, anders als die Zweidrittelmehrheit im Richterwahlausschuss, nun heftig gegen Brosius-Gersdorf wenden, liegt dem allerdings ebenfalls ein verengter Blick auf das politische Verfahren der Richterwahl zugrunde. Es ist nämlich der Eindruck erzeugt worden, die Kandidatin trete mit einem rechtspolitischen Programm an, für das sie gewählt werden und das sie dann in Karlsruhe durchsetzen wolle. Aber Kandidaten für das höchste Gericht geben keine Wahlversprechen ab. Sie verwirklichen in Karlsruhe auch nicht, was sie zuvor in ihren rechtswissenschaftlichen Schriften entwickelt haben. Das können sie schon deshalb nicht, weil sie dort über Fälle entscheiden und nicht allein, sondern nur ein Achtel des jeweiligen Senats sind.
Bei Brosius-Gersdorf wäre es der Zweite Senat, der übrigens, anders als selbst manche Staatsrechtler behaupten, durchaus mit Fällen aus dem Bereich des Schwangerschaftsabbruchs befasst sein kann. Dort könnte sie nicht mehr als argumentieren und träfe auf Gegenargumente. Der Journalist Marc Felix Serrao, der angestrengt bemüht war, ihre Voreingenommenheit zu erweisen, verlor kein Wort dazu, dass Vorurteile noch keine Urteile und nicht einmal ausschlaggebende Beiträge zu Urteilen sind.
Gegen die Vermutung, Verfassungsrichter würden Positionen, die sie in früheren Rollen eingenommen haben, etwa als Minister, Bundestagsabgeordnete oder Professoren, einfach in die Karlsruher Entscheidungsfindungen mitnehmen, sprechen sehr viele Beispiele. Richter, die von der SPD berufen worden waren, haben dem Urteil zum Zweiten Nachtragshaushalt 2021 zugestimmt, das der Ampelkoalition fiskalisch das Genick brach. Richter, die für die CDU im Bundestag saßen, haben Gesetze zur Datenspeicherung, die sie dort vorangebracht haben, in Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt. Ob beim Klimabeschluss oder bei der Sterbehilfe, stets waren die Richtervoten unabsehbar. Im Diskurs des Verfassungsgerichtes geht es also nicht um die Durchsetzung politischer Programme, sondern darum, sich argumentativ nicht vor Seinesgleichen zu blamieren. Die Bundestagsabgeordneten sollten darum, wie alle, nicht zu schnell von sich auf andere schließen.
Karlsruhe ist kein Ministerium
Die vielverlangte Neutralität der Verfassungsrichter heißt entsprechend nicht, dass sie in ihren früheren Rollen Zurückhaltung zu üben haben. Was wäre das auch für eine Rechtswissenschaft, die schon mit Blick auf eine etwaige Karriere beim Gericht und auf politische Zustimmung betrieben würde? Serrao verlangte von der Kandidatin absolute Unbeschriebenheit, als sei die beste Richterin eine, die sich zuvor noch nie zur Sache eingelassen hat.
Das greift am Sinn des verfassungsrechtlichen Entscheidens vorbei. Die Neutralität der Richter ergibt sich nicht durch ihre Blässe oder Indifferenz, sondern dadurch, dass Politik im Karlsruher Diskurs nicht das letzte Wort hat. Ja, nicht einmal dem Höchste-Werte-Vokabular der Festreden kommt dort das entscheidende Gewicht zu. Es wird nachweislich gerade in Würdefragen viel mehr abgewogen, als es die reine Lehre zulassen will. Karlsruhe ist weder ein Seminar noch ein Ministerium und schon gar keine Talkshow. Das Vertrauen in den Eigensinn der Institution sollte es selbst Gegnern einzelner Positionen von Frauke Brosius-Gersdorf erlauben, sich in der Frage ihrer Wahl nicht von emotionalen Kurzschlüssen leiten zu lassen.