Frankreichs neuer Premier : Zuversicht statt Mutlosigkeit – mit dieser Strategie will Bayrou die politischen Kräfte versöhnen | ABC-Z
Die Tage vor der Antrittsrede des neuen französischen Premiers hatten fast etwas von einer Papstwahl: Rund um die Uhr wurde beobachtet und protokolliert. In seiner Regierungserklärung versprach Bayrou, dass er die „Baustelle“ rund um die Rentenform wieder öffnen werde – mit einer Anforderung.
Bei seiner Regierungserklärung am Dienstagnachmittag ging es für Frankreichs neuen Premierminister François Bayrou um alles oder nichts. „Wir werden etwas versuchen, was dem Wesen nach unmöglich ist“, hatte er am Rande der Neujahrsgrüße in der südwestfranzösischen Stadt Pau gesagt, deren Bürgermeister der Christdemokrat seit 2014 ist. Gemeint ist ein Kompromiss, eine Versöhnung von scheinbar unversöhnlichen politischen Kräften.
Bayrou wusste, dass sein politisches Überleben und das seiner erst vier Wochen jungen Regierung auf dem Spiel stehen. Sein Vorgänger Michel Barnier hatte keine hundert Tage im Amt überlebt. Seit dem Sturz der Regierung Barniers ist der Spielraum des Premierministers keineswegs größer geworden. Weder steht ihm mehr Geld zur Verfügung, noch hat sich der politische Sockel der Regierung wie durch Zauberhand vergrößert.
Nach wie vor ist die französische Nationalversammlung in drei Teile gespalten. Die Linkspartei LFI hat ihr Misstrauensvotum bereits im Vorfeld eingereicht. Doch eines ist Bayrou mit seiner anderthalbstündigen Rede gelungen: Der Premierminister hat Zeit gewonnen, er hat seine Galgenfrist verlängert.
Bayrous Regierungserklärung war wegen der instabilen politischen Lage und der Tatsache, dass Frankreich für 2025 noch immer keinen Haushalt hat, mit Spannung erwartet worden. Die Tage zuvor hatten fast etwas von einer Papstwahl. Rund um die Uhr wurde beobachtet und protokolliert, wer im Palais Matignon, dem Sitz des Regierungschefs, ein- und ausging, ob weißer Rauch aus dem Schornstein stieg, ob ein Kompromiss möglich wäre. Streitpunkt war die Rentenreform. Rücknahme, Aussetzung, Neuverhandlung, alle Optionen standen im Raum.
Keinen dieser Begriffe hat Bayrou am Dienstag benutzt. Stattdessen hat er versprochen, die „Baustelle wieder aufzumachen“. Damit hat er eine komplette Neufassung der Rentenreform in Aussicht gestellt. Er werde den französischen Rechnungshof damit beauftragen, innerhalb kürzester Zeit das Loch in der Rentenkasse genau zu berechnen. Auf Basis dieses Flash-Berichts werden alle Sozialpartner gebeten, in ein Konklave zu gehen, um eine „sozial gerechtere und ausgeglichenere Rentenreform“ zu entwerfen.
Es gebe für ihn kein Tabu, betonte Bayrou, allerdings eine einzige Anforderung: Das Ungleichgewicht dürfe nicht größer werden, Einsparungen müssen erfolgen, um die Last nicht auf die Schultern der nächsten Generation zu verlagern. Sollte es nach drei Monaten nicht zu einer Einigung kommen, werde die alte Rentenreform in Kraft treten.
Zahl der Beitragsjahre in die Rentenkasse soll auf 43 erhöht werden
Die im Frühjahr 2023 unter Schmerzen und nach wochenlangen Streiks autoritär durchgedrückte Reform lehnen zwei Drittel der Franzosen laut Umfragen nach wie vor ab. Auch in der Nationalversammlung gab es keine Mehrheit für eine Reform, die einen allmählichen Anstieg des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht. Vorgesehen ist auch, die Zahl der Jahre, während derer in die Rentenkasse eingezahlt wird, um zweieinhalb Jahre auf insgesamt 43 zu erhören. Die damalige Regierungschefin Elisabeth Borne musste die verhasste Reform mangels Mehrheit mit dem berüchtigten Verfassungsartikel 49.3 ohne Abstimmung durchsetzen.
Bayrou hat die Strategie verändert. Anders als Präsident Emmanuel Macron will er die Gewerkschaften in den Prozess einbinden. Auszahlen könnte sich auch der politische Kurswechsel. Hatte sein Vorgänger Barnier auf die Unterstützung von Marine Le Pen und ihrer starken Fraktion des Rassemblement National (RN) gehofft, setzt der Südfranzose Bayrou auf einen Nichtangriffspakt mit den Sozialisten, die sich vom extremistischen Diktat der Linkspopulisten und ihres heimlichen Chefs Jean-Luc Mélenchon inzwischen gelöst haben. Die Aussicht auf eine Neuverhandlung der verhassten Reform dürften ihnen genügen, um sich dem Misstrauensvotum von LFI nicht anzuschließen.
Bayrous Rede klang nicht wie die eines Regierungschefs, sondern erinnerte an die eines Präsidenten. Das ist der Posten, den Bayrou in Wahrheit schon immer angestrebt hat. Statt kleinteiliger Rezepte hat Frankreichs Premier große Linie vorgegeben. Über Minuten ist es ihm dabei gelungen, die Abgeordneten einer inzwischen völlig chaotischen Nationalversammlung zum aufmerksamen Zuhören zu bewegen.
Bayrous Projekt ist ein „französisches Versprechen“
Bayrou hat den Regierungen seit François Mitterrand vorgerechnet, wie viele Schulden sie gemacht haben. Keine einzige kam dabei gut weg. „Unsere Schulden sind ein moralisches Problem“, so Bayrou. „Die Rentenreform ist überlebenswichtig für unser Land und unser Sozialsystem“. Das französische Staatsdefizit werde in diesem Jahr auf 5,4 Prozent der Wirtschaftsleistung gesenkt werden, versprach er, um 2029 die magische Drei-Prozent-Marke zu erreichen.
Bayrous Projekt ist ein „französisches Versprechen“, wie er es formuliert. Die groben Linien seiner Regierungserklärung habe er seit vielen Jahren im Kopf gehabt, betonte er. Er wünsche sich, dass die französische Verunsicherung der vergangenen Monate einer „zarten, aber vernünftigen Hoffnung“ weiche. Statt Mutlosigkeit also Zuversicht.
Wie vor ihm Macron will der Mann aus dem Béarn die Franzosen mit ihrem Land, ihren Politikern, ihren Unternehmern und am Ende mit sich selbst versöhnen. „Wir werden alle Probleme mit aller Kraft und allen Mitteln angehen“, versprach Bayrou. Sogar die Beschwerdehefte, die während der Gelbwestenkrise vollgeschrieben wurden, will er wieder aus der Versenkung holen.