Frankreich: Wie sich Edelwinzer im Bordeaux neu erfinden müssen – Stil | ABC-Z

„Wer immer noch glaubt, das passe nicht ins Bordelais, hat den Schuss nicht gehört“, sagt der Deutschschweizer Stephan von Neipperg, Luxuswinzer in Saint Emilion. Überraschende Worte für jemanden, der sich 40 Jahre lang mit vollmundigen Rotweinen einen Namen gemacht hat, mit Weinen, die an Herrenkonfitüre und Portwein erinnern. In seinem Château Canon La Gaffelière hat von Neipperg eine Flasche aus dem Kühlschrank geholt und öffnet sie mit dem Kellnerbesteck. „Unser neuer Glou Glou!“, sagt er und spitzt dabei die Lippen, was feierlich und ironisch wirkt. Rund um die Gironde werde gerade viel Neues ausprobiert. „Die Entwicklung ist etwas wild geworden.“
Draußen vor dem Schloss rauscht der Regionalzug durch die hügelige Landschaft, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Jetzt zur Erntezeit ist sie ein Gemälde aus Reben, Arbeitern und historischen Domänen. An der Straße hinauf in die Altstadt liegt ein antikes Mosaik aus der Villa des Dichters Ausonius, gegenüber thront das Weinschloss Ausone auf einem Hang aus Kalksandstein, der die mittelalterliche Architektur von Saint Emilion geprägt hat. Vor dieser Kulisse sind die Besucher der Weinbars und Geschäfte noch bereit, überzogene Preise zu bezahlen. Doch viele Winzer hier erwarten eine Zeitenwende – önologisch wie ökonomisch. Manche sprechen vom Ende, andere träumen von einer Renaissance. Klar ist: In einer der teuersten Weinregionen der Welt hat man sich gründlich verspekuliert.
Vorbei die Zeit, in der Geld verlässlicher auf Bordeaux regnete als Niederschlag. Weingüter und Händler konnten nicht genug kriegen. Die einen verkauften immer mehr Wein, immer teurer. Die anderen deckten sich uferlos ein und ließen sich nichts anmerken, wenn der „en primeur“ genannte Preis für den Vorverkauf wieder deutlich über dem des Vorjahres lag und die Reserven desselben Weins noch mehr kosten sollten. Unendlich groß schien der Durst der Kundschaft zu sein, die in Amerika, Russland und bis vor einiger Zeit auch in China bestellte. Gelegentlich kam sie mit ihren Privatjets und Hubschraubern, gern auch mal, um ein ganzes Weingut zu kaufen. Ein Winzer in Saint Emilion erzählt von einem russischen Oligarchen, der für ein dreistündiges „Board Meeting“ im 2000 Jahre alten Weinkeller eine Million Euro bezahlte – Blumen und Starkoch inklusive.
Seit den Neunzigerjahren hatte die Klimaerwärmung verhindert, dass es noch einmal zu den schlechten Ernten kam, die früher in jedem Jahrzehnt üblich waren. Gleichzeitig überhitzte der Markt. Manche Weingüter erwirtschafteten Renditen, die ans Drogengeschäft erinnerten. Die enormen Erlöse wurden manchmal sprichwörtlich versenkt: in Kellern und Lagern, die Architekten wie Norman Foster, Jean Nouvel oder Mario Botta entwarfen.

Ein Treiber des Booms war der US-amerikanische Weinkritiker Robert Parker. Mit seiner überschwänglichen Bewertung des Jahrgangs 1982 hatte er großen Einfluss auf Reputation und Preise gewonnen. Sein maximales Lob von hundert Punkten repräsentiert bis heute das Nonplusultra – obwohl er das Verkosten längst eingestellt und robertparker.com verkauft hat. Mit den Jahrgängen 2009 und 2010 erlebte Bordeaux dank Parkers Empfehlungen den größten Hype. Auch die sechs Neipperg’schen Weingüter profitierten davon, allen voran „La Mondotte“. Eine Flasche kostete bis zu tausend Euro.
Was Stephan von Neipperg inzwischen von seinem neuen Glou Glou eingeschenkt hat, leuchtet wie ein Rubin, den man gegen das Licht hält. „Ein moderner Bordeaux“ sei das: „Easy trinkbar. Weniger Alkohol. Wie ein dunkler Rosé, aber voller Aromen der Merlot-Traube. Geeignet im Sommer, zum Grillen.“ Sommerweine? Leicht zugänglich? Das sind hier ganz neue Töne. Sie sollen die Lösung sein für das „akute Problem“, dass die jüngere Generation keine schweren Weine mehr wolle, die gelagert werden müssen. Passend dazu steht auf dem Etikett „Generations von Neipperg“ – was auch eine Anspielung auf den Generationenwechsel ist.
Sohn Ludovic von Neipperg übernimmt peu à peu die Geschäfte. Und er hofft, mit dem Marketing des Glou Glou an alte Traditionen anknüpfen zu können: „Bordeaux war früher immer heller, wussten Sie das?“ Er spricht über die Zeit, als England 300 Jahre über Bordeaux und seine Weine herrschte und sie „Clairets“ hießen – weil sie „clair“ waren, also durchsichtiger etwa als spanische Rotweine. Das Hanseatische Wein- und Sektkontor soll mehrere Zehntausend Flaschen exklusiv bekommen und sie für gerade mal knapp zehn Euro pro Stück verkaufen. Es ist ein Lockangebot für die deutsche Heimat der Neippergs, wo der Handel mit Bordeauxweinen nur noch zähflüssig läuft. Investoren erzählen von vollen Lagern im Wert von mehreren Millionen Euro, allein in Hamburg. Französische Supermärkte sollen sogar auf 3,4 Millionen Flaschen sitzen. Einkaufswert dort: eine halbe Milliarde Euro.

Bis vor wenigen Jahren schien es in Bordeaux nur eine Krise zu geben: den Überfluss minderwertiger Rotweine, die niemand mehr wollte und die das Image beschädigten. „Das Problem erinnerte an die deutsche Liebfrauenmilch: bekannte Marke, schlechtes Produkt“, sagt Jean-Quentin Prats vom Weingroßhandel Joanne. Lösen sollte es der Staat, indem er Rodungen förderte und die Erzeuger zur Aufgabe bewegte. Gegenwärtig schrumpft die Gesamtfläche von hunderttausend Hektar Reben – ein Gebiet, so groß wie alle 13 deutschen Weinbaugebiete zusammen – um ein Fünftel.
Doch gesundschrumpfen wird Bordeaux so nicht. Weil nun dieses zweite Problem hinzugekommen ist: die Krise der Luxusweine, deren Beliebtheit zurückgeht und die für die meisten verbliebenen Liebhaber zu teuer geworden sind. Die kolossalen Reverven haben sich nicht nur in Supermarkt-Lagern aufgestaut, sondern auch in chinesischen Hochlagern, in Zollfreilagern in London, Genf und Singapur oder in privaten Sammlungen. Auch die Keller vieler Weingüter laufen über, und die 300 Großhändler von Bordeaux, die sogenannten Négociants, müssen gerade erkennen, dass ihre weltweiten Vertriebskanäle so verstopft sind wie nie.
Luxusweine auf der Schnäppchenrampe
„Die Gier war größer als der Durst“, bringt Weinmakler Timothée Moreau das Luxusproblem auf den Punkt: Als Spekulationsobjekt wurde Bordeauxwein mehr gebunkert als getrunken, bis 2023 die Preise einbrachen, seitdem sind sie um ein Drittel gesunken. Die Lage gleicht der prekären Weltwirtschaft im Weinglas: Man bewegt sich zwischen Angst und Gier, ist geplagt von Überproduktion und Verschuldung. Es gab bereits erste Pleiten, weitere werden befürchtet, denn der Jahrgang 2025 verspricht zwar großartige Weine, muss aber günstig bleiben, um überhaupt noch gekauft zu werden. „Das verstärkt den Druck, die Reserven abzuschreiben“, erklärt Weinhändler Jean-Quentin Prats. Schon kursieren Rabattlisten von 50 Prozent und mehr für Weine aus besten Jahren. Luxus auf der Schnäppchenrampe.
„Damit sich alles normalisiert, müssen wir die Menschen ans Trinken erinnern“, sagt Weinmakler Timothée Moreau – und schenkt einer Runde Gäste in seinem „Bureau des Grands Vins“ den teuren Champagner „Clos des Goisses 2014“ ein. Man diskutiert hier, was gegen die ersehnte Normalisierung spricht: schlechte Konjunktur, alkoholkritischer Kulturwandel, US-Zölle, Russland-Sanktionen? Fest steht, dass das Regime in China ausländische Luxusweine inzwischen diskriminiert – wohl auch, um die eigene Produktion zu fördern.
Gleichzeitig haben ausgerechnet Makler und Händler wie Moreau und Prats erhebliche Konkurrenz in das über Jahrhunderte streng protegierte Handelsnetzwerk für Bordeaux-Weine eingeschleust: Teure Weine aus Übersee, aus Italien, aus der Champagne und anderen französischen Gebieten und sogar aus Deutschland werden hier nun ebenfalls gehandelt. Auf dem prächtigen Intarsienparkett in Moreaus Büro – wo vor 200 Jahren Händler von exotischen Hölzern arbeiteten – stapeln sich Kisten mit feinen Rieslingen von der Mosel. Eigentlich versprach man sich dadurch noch mehr Profit, nun ist ungewiss, ob die neuen Weine die Verluste ausgleichen können.

Rund um Bordeaux wird indes eilig mit der Zukunft experimentiert. Im Anbaugebiet Sauternes, dessen likörartig süßer und alkoholreicher Wein aus edelfaulen Weißweintrauben kaum noch Käufer findet, wagen alteingesessene Marken wie Château Rieussec oder Château Rabaud Promis eine radikale Verjüngung. Ihre neuen Etiketten und Flaschen erinnern mehr an Wermut als an Wein und versprechen einen kühlen Aperitif oder eine coole Cocktailzutat – „Saujito“-Rezepte inklusive.
Für nachhaltigen Absatz sollen trockene Weißweine sorgen, die bisher – günstig – in der Region Entre-deux-Mers und – teuer – in Graves und Pessac-Léognan entstehen. Dass früher die Hälfte aller Bordeauxweine weiß waren, ist längst vergessen. Umso besser lässt sich aber nun die Renaissance inszenieren, etwa im Médoc, zwischen Atlantik und Gironde. Auch renommierte Rotweinschlösser wie Mouton Rothschild, Lynch Bages, Palmer, Cos d’Estournel oder Montrose bieten mittlerweile Weißweine an.
„So schmeckt das neue Bordeaux: weniger Alkohol, mehr Frische, viel Spaß!“
Eine radikale Erneuerung haben die Eigentümer des Weinschlösschens d’Agassac bei Frédéric Massie bestellt. Als Partner der Winzer-Beratungsagentur Derenoncourt Vignerons Consultants hilft er gerade dabei, Weine zu machen, „die vor fünf Jahren unmöglich gewesen wären“. Darunter ein Merlot aus der Amphore, ein Chardonnay (der offiziell nicht zugelassen ist), ein Rosé, ein Clairet – und alles zu Preisen unter zwanzig Euro. „So schmeckt das neue Bordeaux!“, schwärmt Massie beim Lunch, wohin er den gekühlten Glou Glou eines anderen Klienten mitgebracht hat: „… nach Himbeere, Minze, Erdbeere und Salz.“
Massie betont, worauf es heute ankomme: „Weniger Alkohol, mehr Frische, viel Spaß.“ Die Formel funktioniere auch für den klassischen roten Bordeaux – wenn mehr von der Rebsorte Cabernet Franc verwendet werde, die von der Loire stammt. Und wenn ein Kniff im Keller zum Einsatz komme: Für die Mazeration, die Auslaugung, müsse die ganze Traube in die Maische, nicht bloß einzelne Früchte. „Lange dachte man, Stängel und andere Teile seien bitter, aber sie enthalten feine Aromen wie Tee.“ Probieren könne man „die Perfektion dieser Methode“ in den Weinen von Château Les Carmes de Haut Brion, das mitten im Stadtgebiet von Bordeaux liegt. Wie kein anderes Gut ist es „Talk of the Town“ – und trotz Flaschenpreisen von 200 Euro ohne Absatzschwierigkeiten.

Wer es traditionell und zugleich neu mag, findet beides im „Bordeaux Hermitagé“-Stil. So bezeichnete man im 19. Jahrhundert den Verschnitt mit Syrah-Trauben aus dem Rhône-Tal. Diese Cuvée machen heute wieder bekannte Châteaux wie Palmer oder La Lagune im Médoc. Ganz in der Nähe mischt auch der Eigentümer des australischen Weingiganten Penfolds mit, der die Weinschlösser „Cambon la Pelouse“ und „Lanessan“ gekauft hat. Penfolds ist bekannt für sogenanntes Multi-Regional Blending, was bedeutet, Trauben aus verschiedenen Regionen zu mischen, um einen wiedererkennbaren Stil zu schaffen. Im Médoc stellt Penfolds in einem groß angelegten Testprojekt nun ebenfalls einen Verschnitt aus Syrah und Cabernet Sauvignon her. Andere Winzer setzen sogar auf Wein aus fünf verschiedenen Trauben.
Die wildeste Entwicklung erlebt unterdessen das Gebiet Castillon – sechs Kilometer östlich von Saint Emilion, wo im Neipperg’schen Weinschloss D’Aiguilhe auch die Trauben für den „Generations“ wachsen. Zu den Mitgliedern des Winzerklubs „Castillon Caractères“, den Stephan von Neipperg mit ins Leben gerufen hat, zählen ebenfalls zwei Australier: Glenda und Frank Kalyk haben in ihrem Chateau Picoron gerade den ersten „Silver Wine of the World“ hergestellt – ein Mix aus der Merlot-Traube mit Aktivkohle, der erfrischend schmeckt.
„Nichts für mich“, sagt von Neipperg beim Grillfest des Winzerklubs. Der Sonnenuntergang hinter Rebenfeldern, Waldrand und Obstbäumen gibt wieder ein malerisches Bild ab. Ob auch unkomplizierte Säfte und andere nichtalkoholische Getränke geplant sind? Immerhin ein weltweiter Trend. „So schlimm ist es noch nicht“, antwortet der Graf. Dann greift er in alter Gewohnheit zu einem großen Stück Fleisch vom Grill. Glou Glou gibt es nicht dazu. Noch nicht. An die neuen Zeiten muss man sich wohl noch gewöhnen.



















