Geopolitik

Frankreich: Au Revoir Madame – mit der Concierge verschwindet ein Stück Frankreich | ABC-Z

Die Concierge gehört zu den mythischen Figuren des Pariser Lebens. Aber kaum eine Hausgemeinschaft möchte sich diesen Luxus heute noch leisten. Wo sie abgeschafft wurde, entsteht eine Lücke, die fast niemand wahrhaben will. Abschied von einer Zeit, in der andere Werte zählten.

Madame Emoura war eine klein gewachsene Frau mit einem ebenso klein gewachsenen Ehemann, die in ihrer Loge auf elf Quadratmetern lebte. Mit Außentoilette samt Schlauch und Abflussloch, als wäre es eine Dusche. Es war eine spartanische Existenz. Sie schliefen auf einem Hochbett, bei dessen Anblick sich die Frage stellte, wie Madame und Monsieur, beide etwa so hoch wie breit, die Leiter Abend für Abend bewältigten.

Die Zeiten, als Madame Emoura das Wohnhaus in der 111 Bis, Rue de Turenne im Pariser Marais sauber hielt und bewachte, die Blumen goss, wenn man im Urlaub war, Pakete entgegennahm und abends die Mülltonnen herausstellte, sind lange vorbei.

Als Erstes fanden die Hausbewohner, dass es nicht nötig sei, die Post jeden Morgen an die Haustür zu bringen. Sobald die Postbotin durch war und ihr alles überreicht hatte, fuhr Madame Emoura mit dem Aufzug in das oberste Stockwerk.

Die Arme voller Briefe, Rechnungen und Zeitungen, klingelte an jeder Tür, übergab den courrier, hielt ein kurzes Pläuschchen, manchmal auch ein längeres, und klapperte so Etage für Etage ab. Abwesenden legte sie die Post unter die Fußmatte. Es gab keine Briefkästen. Es gab auch keine Gegensprechanlage, keine zweite Glastür wie heute, die eine Art Sicherheitsschleuse bildet.

Wenn jemand den richtigen Code hatte und die schwere Haustür öffnete, zog Madame Emoura die Gardine hinter dem Glasfenster ihrer Loge wenige Zentimeter zurück und spähte nach dem Eindringling. Bekannt und befugt? Unbekannt und unbefugt? Dann bellte sie wie Madame Pipelet in Eugène Sues Roman „Die Geheimnisse von Paris“ den ungebetenen Gast an. Où allez-vous? Zu wem wollen Sie?

Man muss sich die Pariser Concierge wie einen Zerberus vorstellen, einen mythischen Wächter – und als eine langsam aussterbende Art. Als die Eigentümerversammlung Ende der Neunzigerjahre beschloss, Briefkästen zu installieren, war das der Anfang vom Ende. Madame Emoura ging wenig später in Rente und zurück nach Portugal.

Als die Loge wiederbesetzt werden sollte, erklärte die Hausverwaltung den Eigentümern, wie viel Geld es kosten würde, diese den neuen Sicherheitsstandards und die Aufgaben an das Arbeitsrecht anzupassen. Man müsse auch bedenken, dass die Sozialabgaben wegfallen, wenn man eine Reinigungsfirma beschäftigt, auch die Rentenbeiträge, die Kosten der Urlaubsvertretung und natürlich die doppelte Bezahlung im Krankheitsfall.

Die Sozialstruktur des Hauses hatte sich verändert. Auf Statussymbole der alten Bourgeoisie wurde nichts mehr gegeben. Aus der Loge wurde ein Abstellraum für Fahrräder und Kinderwagen. Eine Firma ersetzte die Concierge. Der Kellerschlüssel liegt in einem Kasten mit Zahlencode. Jeden Abend kommt jemand anderes und stellt die Mülltonne vor die Tür. Männer mit Migrationshintergrund und Kopfhörern saugen einmal in der Woche das Treppenhaus, sie wirken, als fühlten sie sich wie Eindringlinge.

Für viele Hausgemeinschaften ist eine eigene Concierge ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann oder will. Im Jahr 1892 zählte Paris 200.000 Logen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es 85.000. Ein halbes Jahrhundert später hatte sich diese Zahl fast halbiert. 38.000 verzeichnete das Statistikamt Insee im Jahr 2019, das ist die letzte offizielle Zahl.

Die Pariser Concierge ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie löste den Portier des 18. Jahrhunderts ab, der die Stadtpalais bewachte und pfiff, wenn sich ein Gast anmeldete. Ein Pfeifen pro Etage, so wusste jeder Bescheid, wo der Besucher hinwollte. So beschrieb es Louis-Sébastien Mercier in seinem Werk „Le tableau de Paris“.

Dann setzte der radikale Umbau von Paris ein. Baron Georges-Eugènes Haussmann ließ die Stadt säubern, breite Boulevards anlegen, die den Barrikadenkampf erschwerten. Große Wohnhäuser mit vielen Eigentümern und Mietern entstanden, im Erdgeschoss mit Loge für die Concierge.

In Romanen der Zeit werden sie despektierlich beschrieben als Plappermaul, neugierig und indiskret, in den Karikaturen gnadenlos dargestellt als hässliches Frauenbild, das die Macht hat über eine ganze Hausgemeinschaft. Der Grat zwischen Bewachen und Kontrollieren ist bekanntlich schmal.

„Ich habe Mieter sterben, Kinder zur Welt kommen sehen“, erzählt Elisa Dos Santos, eine kleine Frau mit der Energie eines Bulldozers. Seit 20 Jahren ist sie gardienne, das ist heute die offizielle Berufsbezeichnung, eines hochherrschaftlichen Hauses im Marais, sieben Etagen, 16 Wohnungen.

Im Augenblick herrsche „das absolute Glück“, sagt sie. Denn wie in Großfamilien auch gebe es Hochs und Tiefs in dem Wohnhaus. Mieter, die nicht hineinpassen, die Ärger suchen, Grantler, die sie in die Grenzen weisen muss. Ihre Loge, eigentlich eine großzügige Dienstwohnung, ist manchmal Beichtstuhl, manchmal psychotherapeutische Praxis. Wer Sorgen hat, bleibt hier auf einen Café hängen.

„Ich bin ein Magnet, der sie alle anzieht. Sie erzählen mir alles“, sagt die 56-Jährige, die ihr Dorf im Norden von Portugal im Alter von 18 Jahren verlassen hat, ohne Schulausbildung, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben, Richtung Paris.

Dos Santos hat offizielle Arbeitszeiten, aber was heißt das schon, wenn man die gute Seele eines Hauses ist? Wer nachts nach Hause kommt, ohne Schlüssel, klopft an ihr Fenster. Wenn ein halbwüchsiger Sohn im Taxi vor der Tür steht, aber nicht bezahlen kann, legt sie das Geld aus.

Wenn ein Rohr bricht, mitten in der Nacht, klingelt sie den Klempner aus dem Bett und lässt sich per Visiocall die wichtigsten Schritte erklären. Sie hütet Hunde und Katzen, gern auch gleichzeitig. Für die gilt wie für die Bewohner: Wer nicht spurt, wird zusammengefaltet. „Ich sage, was ich denke, ich nehme kein Blatt vor den Mund“, sagt die kleine Frau im apodiktischen Ton und fügt hinzu, „ich bin die Concierge von Robert Pirès“.

Neben dem Fußballspieler, der der 1998 für Frankreich den Weltmeistertitel holte, gehören oder gehörten zur Hausgemeinschaft ein weltberühmter Architekt, eine bekannte Komikerin und ein Make-up-Artist. Aber die VIPs sind nicht anspruchsvoller als die anderen, sagt Dos Santos.

Ihre Arbeit hat nicht viel mit der ihrer Kolleginnen in den Sozialbauten der ehemaligen Arbeiter- oder Außenbezirke zu tun. Die müssen 13-Jährige ermahnen, dass das Treppenhaus kein Ort für den Drogenhandel ist. „Meine schlimmste Erinnerung ist die an eine Mutter, deren behinderter Sohn seine 13 Monate alte Schwester aus dem Fenster geworfen hat“, erzählt die Concierge Solange V. in dem Buch „Éloge des loges“, ein Lobgesang auf diese vom Aussterben bedrohte Spezies. Eine andere Concierge berichtet darin: „Ich habe das Gefühl, mein Leben den anderen gewidmet zu haben.“

„Es war wie im Kindergarten“

Wie wichtig und schwierig es mitunter ist, klare Grenzen zu ziehen, das weiß auch Dos Santos. Sie erinnert sich an eine Mieterin, die sie klar in ihre Schranken weisen musste. „Es war wie im Kindergarten, ich war ihr Sündenbock. Sie testete mich aus, um zu sehen, wie weit sie gehen kann.“ Als diese im Sterben lag, wusch und windelte Dos Santos die Dame, die niemand anderen an sich heranließ.

Erstaunlich, dass Roland Barthes in seinen „Mythen des Alltags“ der Concierge kein Kapitel gewidmet hat. Sie gehört wie das religiös aufgeladene „Beefsteak und Pommes Frites“ oder der berühmte Citroën DS (man spricht es aus wie déesse, wie die Göttin) zur französischen Ikonografie, zu den Mythen des Pariser Alltags.

Ihr langsames Verschwinden ist mit derselben Wehmut behaftet wie der Abgesang auf die alten, französischen Gangsterfilme, deren Atmosphäre Barthes in seiner Essaysammlung mit zärtlicher Empathie beschreibt. Die gardienne ist dort, wo sie noch existiert, unersetzbar. Wo sie abgeschafft wurde, hinterlässt sie eine Lücke, die niemand mehr wahrhaben will.

In der Rue de Turenne erinnern sich nur noch wenige an Madame Emoura und ihren Mann, die an heißen Sommerabenden ihre Stühle vor die Haustür stellten, Platz nahmen und mit jedem plauschten. Dann war Paris ein Dorf.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"