Frankfurter Domturm: Schönster Ausblick in Rhein-Main | ABC-Z

Fast könnte man denken, man befände sich unter der Erde, in einem Bergwerk oder Tunnelbau. Es wäre stockfinster, wären da nicht die Lampen, die wie Straßenlaternen gebogen ein gleißendes, kaltes Licht verströmen. Es fällt auf Metallstege, auf denen man den Raum durchquert. Denn einen Boden gibt es nicht, unter den Stegen ist etwas aufgeschüttet, das wie feuchter Sand aussieht. In der Mitte treffen sich die Stege an einer runden Luke. Hier kreuzen sich die Kirchenschiffe, hier befindet man sich direkt über dem Altar des Kaiserdoms.
Diesen Beinamen trägt die Frankfurter Stiftskirche St. Bartholomäus, weil hier die Herrscher des Heiligen Römischen Reiches gewählt wurden. In der an den Domchor angebauten Wahlkapelle bestimmten die Kurfürsten von 1438 an den römisch-deutschen König. Seit 1562 wurde er dann auch im Dom zum Kaiser gekrönt, hier nahm er das Zepter und den Reichsapfel entgegen, hier wurde ihm die Krone aufs Haupt gesetzt, bevor ihn der Festzug über den Krönungsweg zum Römer geleitete.
Was unter den eisernen Stegen wie feuchter Sand aussieht, sind feuerfeste Dämmflocken. Sie liegen auf dem Domgewölbe, über das sich der Dachstuhl spannt. Das Eisengerüst, das ihn trägt, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die ehernen Streben wurden nach dem verheerenden Dombrand von 1867 eingefügt. Die Feuersbrunst war für die Frankfurter ein traumatisches Ereignis, das tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein hinterlassen hat. Ein Jahr zuvor hatten die Preußen die bis dahin freie Stadt besetzt, im Brand des Wahrzeichens schien sich der Bedeutungsverlust der einstigen Kaiserstadt zu manifestieren.
Jahrhundertelang war die Aufmerksamkeit der Bürger auf den Dom und insbesondere auf dessen Turm gerichtet. Er war der optische und auch der akustische Fixpunkt: Weit über die Stadtmauern hinaus waren die himmelwärts strebenden Spitzbögen, Filialtürmchen und Kreuzblumen zu sehen, war das Geläut der Glocken zu hören. Der Bau begann 1413 unter Dombaumeister Madern Gerthener, der wahrscheinlich auch das benachbarte Leinwandhaus, den Eschenheimer Turm und die Südfassade der Liebfrauenkirche errichtete. Die filigrane Architekturzeichnung Gertheners ist heute im Historischen Museum als Dauerleihgabe des Instituts für Stadtgeschichte zu sehen.
Die Bartholomäuskirche selbst ist weit älter als ihr Turm, die Vorgängerbauten reichen bis ins siebte Jahrhundert zurück, in ihrem heutigen gotischen Erscheinungsbild wurde sie 1370 fertiggestellt. Was fehlte, war ein repräsentativer Turm. Einer, wie ihn sich die selbstbewusste Bürgerschaft gewünscht habe, sagt Dennis Bruns vom Dommuseum, das regelmäßig Führungen anbietet. Im ausgehenden Mittelalter waren Türme ein Statussymbol in der Konkurrenz der Städte – und Rivalen wie Ulm, Straßburg und Freiburg hatten vorgelegt, während Frankfurt mit seinen noch aus karolingischer Zeit stammenden Doppeltürmchen ins Hintertreffen zu geraten drohte.

Bevor der Turmbau beginnen konnte, musste das alte Rathaus weichen, das westlich des Doms stand. Als neuen Standort erwarb die Stadt zwei Häuser am heutigen Römerberg, baute sie um – und schuf somit den Römer, der bis heute politisches Zentrum der Stadt ist. Der Bau des Turms zog sich allerdings hin: Erst 1514, also 99 Jahre nach Baubeginn, wurde er beendet. Und wirklich fertig war er auch dann nicht: Auf die vom zwischenzeitlich längst verstorbenen Baumeister Gerthener geplante Laterne, die den Turm bekrönen sollte, war in wirtschaftlich, sozial und religiös schwierigen Zeiten verzichtet worden.
Die behelfsweise aufgesetzte Flachkuppel erinnerte nach einer wohlmeinenden Interpretation an die Reichskrone, das Volk aber nannte sie halb despektierlich, halb liebevoll „Schlafmütze“. Eine zweite Chance bekam Frankfurt durch den Dombrand von 1867. Im Zuge des Wiederaufbaus erhielt der Dom die Spitze, die ihm ursprünglich zugedacht war. Wieder einmal ging es darum, andere Städte zu übertreffen: Die Höhe wuchs um mehr als 20 Meter gegenüber der Flachkappe, aber auch über Gertheners Entwurf hinaus auf 94,80 Meter.

Vom Dachstuhl führt eine Wendeltreppe zur Glockenstube, die von der an einem mächtigen Eichenjoch hängenden, zwölf Tonnen schweren Gloriosa dominiert wird. Die „Ruhmreiche“ ist die mit Abstand größte der neun Glocken im Kaiserdom und die drittschwerste Bronzeglocke in Deutschland. Ihren durchdringenden, in jeder Körperfaser zu spürenden Bass hören die Frankfurter an hohen christlichen Feiertagen, wenn ein Bischof oder Papst stirbt und viermal im Jahr im Stadtgeläut – so wie auch jetzt wieder am Karsamstag.
Zu verdanken ist die Gloriosa ebenfalls der Dombrand-Katastrophe. Wie Bruns sagt, wurden die Glocken des neuen Geläuts aus dem „Gekrätz“, also den beim Brand geschmolzenen Vorgängerglocken, gegossen sowie aus Geschützen, die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erbeutet wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Gloriosa beschlagnahmt und beinahe selbst wieder zum militärischen Rohstoff, doch sie blieb unversehrt und kehrte zurück.
Anders als im Dachstuhl sind in der Glockenstube die Elemente zu spüren: Durch die Lamellen der Fenster fällt das Tageslicht, ein frischer Wind strömt herein, aus der umgebenden Altstadt sind Stimmen zu hören. Turmfalken brüten hier oben und lassen sich dabei offenbar nicht vom Glockengeläut stören. Über eine sich nach oben verjüngende Wendeltreppe geht es weiter hinauf bis zur Türmerstube. Der Blick von der umlaufenden Balustrade gehört auch heute noch, da die Hochhäuser den Domturm längst überragen, zu den schönsten im Rhein-Main-Gebiet.
Zu Füßen des Doms liegen die Neue Altstadt und die Schirn, dann der Römerberg und die Paulskirche. Der Main schlängelt sich als glitzerndes Band unter der Alten Brücke und dem Eisernen Steg durch die Stadt, im Westen am Wolkenkratzerpulk des Bankenviertels und im Osten an der Europäischen Zentralbank vorbei. Wer den Blick über die Sandsteinverzierung hinaus noch etwas weiter hebt, der erkennt die Höhenzüge von Taunus, Spessart und Odenwald.
Dieses erhebende Panorama wurde auch in früheren Zeiten geschätzt. Domführer Bruns erzählt, dass ein Kaiser einst zu einer exklusiven Tanzveranstaltung nach hier oben einlud. Ganzjährig konnte der Türmer, der mit seiner Familie in der Türmerstube wohnte, den Ausblick genießen. Wie wichtig die Arbeit in 66 Meter Höhe war, daran erinnern die Hülsen für die Fahnen, mit denen der Türmer vor Feinden oder vor Feuern warnte, die in der dicht bebauten Fachwerk-Altstadt immer wieder ausbrachen.
Bis 1942 war die Türmerstube bewohnt, vor zwei Jahren wurde sie saniert und ist seither bei Domführungen zu besichtigen. Wer die „Wohnung so nahe den Wolken“, wie es der Verleger George Friedrich Hartung ausdrückte, besichtigt, wird sich unwillkürlich fragen, wie es wohl war, als Kind eines Türmers aufzuwachsen: die beeindruckende Macht der Elemente und Jahreszeiten um sich herum, die ganze Stadt und den Horizont im Blick, mehr wahrnehmend als alle anderen, aber doch einsam, entkoppelt vom Leben, 328 Stufen über dem Domplatz.