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Studie der Uni Münster zur Radikalisierung von Muslimen | ABC-Z

Eine einfache Methode zur Ermittlung der herrschenden Meinung ist der Dialog mit ChatGPT. Befragt zum Stichwort Extremismus, zeigt sich der Automat auskunftsfreudig. Fragt man ihn zum Islamismus, endet der Redefluss. Dann dreht und windet sich der stets höfliche Assistent, verweigert die Auskunft über Statistiken, die man auf Wikipedia problemlos einsehen kann, verweist auf unsichere Forschungslagen in breit erforschten Themenfeldern und markiert den Dialog mit einem Warnsignal. Es handele sich um strittige Themen, man möge sich vorsehen. Manchmal lügt er auch. Auf Rückfrage räumt er dann ein, es gebe die betreffenden Daten zwar, sie seien aber in der Öffentlichkeit wenig sichtbar, weshalb manche meinten, es gebe sie nicht. Kurz: Er ist ein realitätsgetreues Abbild der Islam-Debatte, in der sich Extrempositionen empirisch unvermittelt gegenüberstehen.

Ein Drittel der Befragten bejahe Gewalt, heißt es

Glücklicherweise gibt es noch Forscher, die ihre Daten selbst erheben. Ein Team unter dem Islamtheologen Mouhanad Khorchide von der Universität Münster hat in einer noch unveröffentlichten Studie herausgefunden, dass ein Fünftel der hierzulande lebenden rund 5,5 Millionen Muslime mit Migrationshintergrund ein Kränkungsgefühl habe, das sie emotional anfällig für radikale Ansichten mache. Diese Einschätzung gewannen man in einer repräsentativen Umfrage unter 1887 Muslimen mit Migrationshintergrund zwischen Juli 2023 und April 2024, dazu kamen 160 Leitfadeninterviews in türkisch- und arabischstämmigen Milieus.

In der Presse wurde daraus im Anschluss an einen Vorabbericht in der Neuen Osnabrücker Zeitung die Schlagzeile, eine Million Muslime fühle sich in besonderer Weise in ihrer persönlichen Weltanschauung gekränkt, pflege starke antiwestliche und antisemitische Feindbilder und weise eine geringe Kritikfähigkeit auf. Mehrheitlich finde diese Gruppe, der Islam sei die einzige und letztgültige politische Autorität und die Scharia viel besser als die deutschen Gesetze. Ein Drittel der Gruppe bejahe Gewalt als Reaktion auf empfundenes Unrecht, immerhin dreihunderttausend Menschen. Hunderttausend würde die Interessen von Muslimen selbst gewaltsam durchsetzen. Zahlen, die Sprengstoff bergen.

Das Ressentiment wird von Islamisten aufgegriffen

Das Interesse an den vorab veröffentlichten Ergebnissen war so groß, dass die Wissenschaftler die Studie am Mittwoch noch einmal an der Universität Münster vorstellten, auch um voreilig daraus gezogene Schlüsse wieder einzufangen. Die emotionale Anfälligkeit für Radikalität, hieß es nun, bedeute keineswegs, dass die davon Betroffenen auch tatsächlich radikal würden. Die Studie habe lediglich den Zusammenhang zwischen Kränkung, Ressentiment und Radikalisierung herausgearbeitet. Auf nackte Zahlen, wie in der Presse geschehen, könne man das radikale Potential wissenschaftlich seriös nicht herunterbrechen.

Was ist nun der Befund der Studie? Das Gefühl, einer grundsätzlich diskriminierten Gruppe anzugehören, ist ihr zufolge unter Muslimen hierzulande bei einem Fünftel verbreitet und begünstige ein Ressentiment, das von islamistischen Gruppen aufgegriffen und verallgemeinert werden kann. Daraus entstehe eine feindselige Haltung zum Westen und der übrigen Gesellschaft, oft unabhängig von tatsächlich erlittener Diskriminierung. Befördert werde das Ressentiment insbesondere von pauschalen und abwertenden Urteilen über den Islam, das Ergebnis sei wieder um ein abstrakt negatives Bild der westlichen Gesellschaft.

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Wie will man das Kränkungsgefühl überwinden? Mouhanad Khorchide warb für Fördermaßnahmen, die das Bild der Gesellschaft zum Positiven verändern. Er nahm dafür die Moscheegemeinden in die Pflicht. Die Mitautorin Sarah Demmrich fügte hinzu, die meisten Muslime hierzulande hätten ohnehin ein positives Bild der Gesellschaft. 85 Prozent befürworteten die Demokratie, 73 Prozent wollten sich integrieren.

Schön wäre es gewesen, dies anhand der Studie nachvollziehen zu können. Die will man aber erst im August veröffentlichen. Bis dahin werden Medienvertreter mit Häppchen abgespeist, was angesichts des brisanten Themas nicht gerade zur Deradikalisierung beiträgt. Wer sich ein Bild machen will, ist vorerst auf andere Studien angewiesen. Der Soziologe Ruud Koopmans hatte 2014 in einer europäischen Vergleichsstudie mehrheitlich fundamentalistische Einstellungen in muslimischen Milieus festgestellt. Zu einem ähnlichen Befund kam eine Studie der Universität Münster bei Türkischstämmigen in Deutschland aus dem Jahr 2016. Ein Drittel der Befragten wünschte sich eine Gesellschaftsordnung wie zur Zeit des Propheten, knapp die Hälfte stellte religiöse Gebote über staatliche Gesetze. Religiöser Fundamentalismus steht aber nicht in zwingendem Zusammenhang zu Extremismus.

Drei Viertel der Bevölkerung halten den Islam für rückständig

Die Studien markieren eine klare Grenze zu jenen Kreisen, die Muslime pauschal ablehnen, weil sie den Islam für rückständig und unreformierbar halten. Das sind nicht wenige. Nach den großen Einstellungsumfragen gibt es in Deutschland sehr viele Menschen, die keinen muslimischen Bürgermeister haben wollen und meinen, Muslime wollten Europa schrittweise in einen Gottesstaat verwandeln. Laut dem Bertelsmann Religionsmonitor hält rund ein Dreiviertel der deutschen Bevölkerung den Islam für rückständig und frauenfeindlich. Nicht jede Meinung ist per se islamfeindlich, weil die Studien-Items oft keine Differenzierung zulassen.

Wenn etwa 46 Prozent laut ALLBUS-Befragung meinen, unter den hierzulande lebenden Muslimen seien viele Fanatiker, stellt sich die Frage: Wie viel sind viele? Ein Item wie „Der Islam ruft zur Gewalt auf“ ist für eine sinnvolle Antwort zu allgemein, denn es gibt im Koran Gewaltaufrufe, und es gibt auch Gruppen, die das Land in ein Kalifat verwandeln möchten. Ein realistisches Bild bekommt man nur, wenn man die Antworten ins Verhältnis zu den tatsächlich zu beobachtenden religiösen Herrschaftsansprüchen stellt.

Differenzierende Studien sind Maßnahmen zur Deradikalisierung

Wenn dagegen ein Viertel der Befragten laut Leipziger Autoritarismusstudie einen Einwanderungsstopp für Muslime fordert und ein Drittel meint, Muslimen sollten in Deutschland nicht die gleichen Rechte wie allen anderen zugestanden werden, dann ist das ein klares Zeichen von Muslimfeindlichkeit und ein Bruch mit demokratischen Regeln. Für Muslime ist es eine reale Gefahr, denn es gibt heute eine politische Kraft, die solche Forderungen vielleicht einmal wird umsetzen können.

Studien, die das Bild des Islam differenzieren, sind selbst Deradikalisierungsmaßnahmen. Als solche versteht sich auch die neue Studie aus Münster. Mouhanad Khorchide forderte dazu auf, ausgewogen über die Benachteiligung von Muslimen zu sprechen und den Rassismusvorwurf nicht inflationär zu gebrauchen, sonst stärke man radikale Tendenzen auf der Gegenseite. In Politik und Verwaltung hat sich die bequeme Meinung durchgesetzt, radikale Ansichten bei Minderheiten seien grundsätzlich nicht das Produkt von ideologischen Einflüssen, sondern von Diskriminierungserfahrungen, denen ihre Träger überall und ständig ausgesetzt seien.

Nach dieser Erklärung ist die Ursache für den Extremismus die diskriminierende Mehrheitsgesellschaft, was dazu führt, dass alle anderen Ursachen der Radikalisierung gar nicht erst angegangen werden. Wenn Extremismusprävention Erfolg haben soll, darf sie Ressentimentgeladene nicht in ihrem Weltbild bestätigen, das, wie die Studie herausfand, auch ganz unabhängig von persönlichen Erfahrungen sein kann.

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