Fluide Geschlechter: “Orlando” nach Virginia Woolf im Silbersaal | ABC-Z
Opernfreunde könnte die Ankündigung der Straubinger Musiktheatertruppe auf die falsche Fährte locken. Sie ist berühmt für besondere Produktionen an ungewöhnlichen Orten. Da wird das Müllersche Volksbad zum Opernhaus für Monteverdis “Poppea” oder, wie erst im vergangenen Sommer, der Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität zum Schauplatz für Tschaikowskys “Mazeppa”.
Die fantastische Vita eines englischen Adeligen
Jetzt hat Andreas Wiedermann, Gründer und Leiter der Opera Incognita und weiterer Theaterunternehmungen, “Orlando” im Silbersaal des Deutschen Theaters im umfassenden Angebot. Allerdings ist es nicht die Oper von Georg Friedrich Händel. Der auch im Sprechtheater versierte Regisseur inszenierte ein Musiktheater nach Virginia Woolf. Deren 1928 erschienener Roman “Orlando” erzählt nicht wie einst Händel vom rasenden Ritter Orlando, den die Liebe in den Wahnsinn treibt. Woolf beschreibt die ziemlich fantastische Vita eines englischen Adeligen aus dem späten 16. Jahrhundert.
Der schöne Knabe erringt die Gunst der sterbenden Königin Elisabeth I. Als eine russische Gräfin eine leidenschaftliche Affäre mit ihm abrupt beendet, zieht er sich auf seinen Landsitz zurück. Von dort flieht er vor den Nachstellungen einer Erzherzogin nach Konstantinopel, wo er in politische Wirren gerät. Orlando fällt für mehrere Tage in einen tiefen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Aus dem Schwarm der Damen wurde eine Traumfrau, der die Herren zu Füßen liegen. Und da sie nicht gestorben ist, lebte sie noch im frühen 20. Jahrhundert, als Virginia Woolf ihre beziehungsweise seine Geschichte aufschrieb.
Sinnliche Emotion
Diese Biografie einer fluiden Geschlechtlichkeit zeigt sich knapp 100 Jahre später als erstaunlich nahe dem gegenwärtigen Zeitgeist. Das heißt nicht, dass man auf barocken Klang verzichten muss. Ernst Bartmann rekonstruiert am Keyboard den höfischen Sound einfühlsam. Die populäre Arie “Lascia ch’io pianga” ist zwar aus “Ronaldo”, aber von Händel. Andere seiner Zeitgenossen wie John Dowland sind ebenso auf der Reise durch die Epochen dabei wie die Hymne “Rule Britannia”, wenn Orlando in die Heimat zurückkehrt. Im 19. Jahrhundert lästert sie über die Mode des viktorianischen Englands, zu heiraten und sich ein Leben lang zu binden.
Doch dann verliebt sie sich unsterblich in den Seefahrer Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, der freilich aus beruflichen Gründen nie zu Hause ist. Doch zur Verlobung singt das Paar ein anrührendes Duett mit Nenas “Leuchtturm”, der hier mit einer sinnlichen Emotion aufgeladen ist, die man der Neuen Deutschen Welle nicht zugetraut hätte.
In der stark stilisierten und doch kostbar erscheinenden Ausstattung von Aylin Kaip entfalten die Schauspielerin Regina Speiseder, die Mezzosopranistin Carolin Ritter und der Schauspieler Thomas Sprekelsen ein Jahrhunderte wie die Geschlechter übergreifendes Spektakel. Trotz einer extremen Entschleunigung erfreut die Inszenierung mit einem lakonischen Witz, der sich harmonisch in die Woolfsche Ironie fügt. Insofern haben auch Opernfreunde, die anderes erwarteten, einen sehr guten Abend.
Deutsches Theater, Silbersaal, bis 17. Oktober, 20 Uhr, Karten unter Telefon 55 23 44 44