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Tennis: Jannik Sinner und das Dopingdilemma | ABC-Z

Ein positiver Dopingtest ist für einen Profisportler wie die smoking gun für einen Mörder. Ein kaum widerlegbarer Beweis. Jannik Sinner, den Ersten der Tennisweltrangliste, erwischte man im März 2024 vermeintlich gleich zweimal mit einer rauchenden Pistole, als er zweimal positiv auf ein Steroid getestet wurde. Wieso, fragen sich also viele, darf Sinner am Montag trotzdem schon wieder bei den French Open mitspielen? Wieso könnte er nach nur drei Monaten Sperre ein Grand-Slam-Turnier gewinnen?

Das liegt daran, dass sich die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) im Februar dieses Jahres mit Sinner auf einen Deal einigte. Der 23 Jahre alte Italiener gab an, nicht absichtlich gedopt zu haben. Die Wada akzeptierte seine Erklärung und sperrte ihn wegen Fahrlässigkeit nur für drei Monate, üblich ist in vergleichbaren Fällen eine Sperre zwischen einem und zwei Jahren. “Ein trauriger Tag für das Tennis. Fairness gibt es im Tennis nicht”, schrieb anschließend der Australier Nick Kyrgios auf X. Andere Tennisspieler äußerten sich ähnlich.

Tatsächlich erklärte Sinner seine beiden Dopingtests mit einer auf den ersten Blick abenteuerlichen Geschichte. Das Steroid Clostebol sei über seinen Physiotherapeuten Giacomo Naldi in seinen Körper gelangt. Der habe ein Trofodermin-Spray benutzt, um eine Wunde an seinem Finger zu behandeln. Trofodermin enthält Clostebol und ist in Italien rezeptfrei zu bekommen. Die Dopingwarnung auf der Verpackung habe Naldi nicht gesehen, er habe das Spray ohne Verpackung von Sinners Athletiktrainer erhalten. Während Naldi das Trofodermin neun Tage lang auf seinen Finger sprühte, habe er Sinner täglich massiert. Da der Physiotherapeut keine Handschuhe trug, soll er das Steroid quasi in den Weltranglistenersten einmassiert haben.

Weil das manchen ein bisschen zu unwahrscheinlich vorkam und Sinner ja nicht irgendwer ist, wurde der Fall zu einem der größten Dopingaufreger der jüngeren Vergangenheit. Allerdings: Theoretisch kann es genau so gewesen sein, wie Sinner sagte. So legte dieser prominente Fall ein grundsätzliches Problem des weltweiten Kampfes gegen Doping offen: Es fällt zunehmend schwer zu unterscheiden, wer wirklich gedopt hat und wer unschuldig ist. Und das liegt nicht etwa daran, dass mit den Tests etwas nicht stimmen würde, sondern daran, dass sie immer genauer werden. Gemessen wird inzwischen in Pikogramm, also dem Billionstel eines Gramms.

Doping durch Händeschütteln

Mario Thevis, der Leiter des Dopinglabors in Köln, beschrieb das in der Rheinischen Post so: Mit den heutigen Analysemethoden könne man einen Zuckerwürfel in einem olympischen Schwimmbecken voller Wasser nachweisen.

Die Tests sind so gut, sie führen auch bei geringen Mengen zu positiven Ergebnissen, die theoretisch auch durch unbeabsichtigtes Doping zu erklären sind. Wissenschaftlich ist das lange bekannt. Auch bei Clostebol. 2020 leitete Xavier de la Torre aus dem Dopinglabor in Rom eine Studie, die bewies, dass selbst ein kurzer Kontakt mit jemandem, der eine Creme mit Clostebol benutzte, zu einem positiven Test führen kann. Schon Händeschütteln reichte dafür. Eine andere Studie zeigte, dass Clostebol sogar beim Sex übertragen werden kann. Clostebol-Fälle, die ähnlich sind zu dem von Sinner, gab es schon in allen möglichen Sportarten – Schwimmen, Langlaufen, Basketball, auch im Tennis.

Die International Tennis Integrity Agency (ITIA), die zunächst für Sinners Fall zuständig war, befragte de la Torre und zwei weitere Dopingexperten. Laut dem Bericht der ITIA (PDF) gaben alle drei an, Sinners Version mit dem Spray und dem Physiotherapeuten könne die beiden positiven Tests erklären. Die ITIA sperrte Sinner nicht, später einigte er sich mit der Wada auf den Dreimonatsdeal.

Dass die Dopinganalytik immer besser wird, hat viele positive Effekte. Bei Nachtests wurden schon viele Doper nachträglich überführt, mehrere Medaillengewinner früherer Olympischer Spiele mussten ihre Medaillen wieder abgeben. Allerdings haben die Antidopingorganisationen nun ein Problem, das sie so früher nicht hatten. “Wir sind sehr froh darüber, dass sich die Labore immer weiterentwickeln, wir wollen ja auch Kleinstmengen von Dopingsubstanzen nachweisen”, sagt Lars Mortsiefer, der Vorstandsvorsitzende der Nationalen Anti Doping Agentur Deutschland (Nada). “Aber zugleich kommen wir dadurch in ein Dilemma, dass wir auch Fälle haben, die weit weg sind von Doping.” Damit fair und gerecht umzugehen, sei eine Herausforderung.

Denn es kann zwar so gewesen sein, wie Sinner sagt, das heißt aber noch nicht, dass es auch so gewesen sein muss. Werden nur geringe Mengen einer Dopingsubstanz gefunden, kann das für unbeabsichtigtes Doping sprechen. Aber auch für absichtliches Doping mit Mikrodosen, die auch schon einen Vorteil bringen können und mit denen Doper hoffen, nicht positiv getestet zu werden. Oder das Doping liegt einfach schon länger zurück und der Stoff hat sich schon weitestgehend abgebaut.

Bisher gilt im Antidopingkampf das Prinzip der Eigenverantwortung: Findet man im Körper eines Sportlers eine verbotene Substanz, ist er dran – außer er hat eine wirklich sehr überzeugende Erklärung. Weil ein positiver Test als sehr starkes Indiz gilt, muss ein Sportler bei einem Verfahren seine Unschuld beweisen. Nicht andersherum. Bei Epo-Doping zum Beispiel gilt das weiterhin, ein Versehen ist ausgeschlossen, denn man muss es spritzen oder spritzen lassen. Doch weil bei Steroiden wie Clostebol auch eine Kontamination möglich ist, stellt sich die Frage, ob ein positiver Dopingtest immer noch eine smoking gun ist.

Man müsse unbeabsichtigtes Doping in Zukunft stärker berücksichtigen, sagt Lars Mortsiefer. “Um im Einzelfall gerechtere Entscheidungen zu treffen, darf man sich nicht in jedem Fall nur auf das Analyseergebnis verlassen, sondern muss weitere Ermittlungen vornehmen. Wohl wissend, dass wir aufpassen müssen, nicht wieder Rechtslücken zu öffnen, die man mit Kleinstmengen an Doping ausnutzen kann.”

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