Florian Wirtz: Dabei sein war erst mal alles | ABC-Z

Nein, komplett zufrieden sah Florian Wirtz nicht aus, als er nach 81 Minuten vom Feld gerufen wurde. Auch das Publikum an der Anfield Road applaudierte seinem neuen deutschen Star zwar artig, aber längst nicht so enthusiastisch, wie man es bei einem Spieler hätte erwarten können, über den sein Trainer Arne Slot schon vor Saisonbeginn folgende Sätze sagte: “Wenn man ihn spielen sieht, denkt man: Ist das dein Ernst? Er ist so kreativ.”
Das Lob des Trainers und natürlich das Preisschild von 150 Millionen Euro haben die Erwartungen an Florian Wirtz vor seinem ersten Spiel in der Premier League ganz dezent ins Unermessliche steigen lassen. Mit diesen 150 Millionen Euro ist Wirtz immerhin der teuerste Transfer in der Geschichte der an teuren Transfers nicht eben armen Premier League.
Wirtz selbst sagte zuletzt, zu dieser Zahl eine pragmatische und recht gesunde Einstellung gefunden zu haben. “Ich will Fußball spielen. Wie viel Geld die Klubs untereinander bezahlt haben, spielt keine Rolle.” Aber wie sollte man es auch anders angehen als 22-Jähriger, der gerade den Schritt aus der Heimat zu einem der sagenhaftesten Vereine der Welt gemacht hat? Und der deswegen nun auch von der ganzen Welt beobachtet wird. Bei jedem Ballkontakt, jedem Pass, jedem Dribbling und jedem gewonnenen oder erst recht jedem verlorenen Zweikampf fragen sich alle: Ist er es wert?
Nimmt man, was eigentlich wegen der zu geringen Stichprobe verboten ist, lediglich das erste Premier-League-Spiel von Florian Wirtz, das 4:2 des FC Liverpool gegen den AFC Bournemouth, läuft die Antwort auf ein entschiedenes “Vielleicht” heraus.
Wirtz machte ein okayes, aber kein herausragendes Spiel. Er war fleißig, stets unterwegs, bot sich viel an. Er gewann ein paar Defensivzweikämpfe, die in England traditionell vom Publikum besonders gefeiert werden. Noch mehr, wenn sie von Spielern geführt werden, die eher im Verdacht stehen, schöngeistig unterwegs zu sein.
Den Rhythmus eines Spiels bestimmen
Der ehemalige Leverkusener zeigte, wofür er geholt wurde. Liverpool möchte seinem Überwältigungsfußball, in dem immer noch die DNA von Jürgen Klopp steckt, mehr Kreativität und Technik hinzufügen. Ein mutiger Plan für eine Mannschaft, die in der vergangenen Saison mit komfortablem Vorsprung Meister wurde.
Wirtz demonstrierte also, wie gut er den Ball handeln und zumindest in Ansätzen den Rhythmus eines Spiels bestimmen kann. Er spielte einige wie am Lineal gezogene Pässe, etwa auf Mohamed Salah, eine potenziell sehr aufregende Kombination. Am schönsten waren an diesem Abend jedoch Dinge, die Wirtz wie Kleinigkeiten aussehen ließ, die aber groß waren: kurze Ablagen mit der Hacke auf sehr viele freiere Mitspieler, kurze Durchstecker auf in eine gute Position laufende Kollegen.
Allerdings streute Wirtz auch etliche Fehlpässe, Ballverluste und sonstige Fahrigkeiten ein. Einige Male trennte er sich zu spät vom Ball und bekam prompt die Hartnäckigkeit und Härte des durchschnittlichen Premier-League-Spielers zu spüren. An Tempo und Physis der schnellsten und härtesten Fußballliga der Welt muss er sich noch gewöhnen.
Und auch sonst schien Wirtz manchmal etwas in der Luft zu hängen, nur mitzulaufen, er schoss nur einmal aufs Tor. Er schien sich und seine Rolle noch zu suchen. Kurzum: Wirtz spielte, als würde er das erste Mal Premier League spielen.
Nicht der einzige Megatransfer
Erleichternd wird für Wirtz sein, dass er nicht der einzige Megatransfer war, den Liverpool im Sommer tätigte. Für bis zu 95 Millionen Euro kam der französische Stürmer Hugo Ekitiké von Eintracht Frankfurt. So schauten wenigstens nicht alle nur auf Wirtz. Und Ekitiké machte, was Stürmer tun: scoren. Nach einer recht glücklichen Pingpongeinlage mit einem Abwehrspieler stand er in der 37. Minute allein vor dem Tor und schob zum 1:0 ein, in der 49. Minute legte er für den Niederländer Cody Gakpo ab, der das 2:0 machte.
Das Spiel schien eigentlich durch, als einer der besten Männer auf dem Spielfeld aufdrehte: Bournemouths Antoine Semenyo traf in der 64. und 76. Minute doppelt, was auch deshalb bemerkenswert war, weil in der ersten Halbzeit kurz das Spiel unterbrochen wurde, da Semenyo angab, von einem Zuschauer rassistisch beleidigt worden zu sein.
Ein wenig symptomatisch für diesen ersten Premier-League-Abend von Florian Wirtz war, dass der Spieler zum Helden des Spiels wurde, der in der 82. Minute für den Deutschen eingewechselt wurde: Federico Chiesa traf vor dem eskalierenden Kop zum 3:2 in der 82. Minute. Der Italiener kam letztes Jahr ins Team, spielte aber quasi nie und gilt als heißester Verkaufskandidat – und wurde deshalb von den Fans umso herzlicher gefeiert.
Zur Melodie von Dean Martins Welthit Sway sang die Anfield Road minutenlang über Chiesa, seinen Ex-Klub Juventus Turin und den Fakt, dass er längst einer von ihnen ist, weil Arne Slot ihn gekauft hat.
Wenn alles normal läuft, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie auch für Florian Wirtz einen Song gedichtet haben.