Der Brüsseler Zeichner Christoph Mueller | ABC-Z

Vor ein paar Wochen war ich mit Chris Ware in Darmstadt. Rein privat, Darmstadt ist mir – von Paulina Stulin einmal abgesehen – noch nicht als Comicmetropole aufgefallen. Aber Ware wollte auf die Mathildenhöhe, denn wer wie er ein großes Architektur-Faible hat, das sich nicht nur in Szenerie und Thema seiner Comics (vor allem in „Building Stories“) artikuliert, sondern auch in einem von ihm gestalteten Bildband über den vor etwas mehr als hundert Jahren gestorbenen amerikanischen Architekten Louis Sullivan sowie in der eigenartigen, aber wunderschönen DVD „Lost Buildings“, die das Material zu einem von Ware aufbereiteten Vortrag über Sullivan enthält, der interessiert sich auch für Joseph Olbrich, den Kopf hinter dem zum Weltkulturerbe erklärten Ensemble der Mathildenhöhe. Denn Sullivan und Olbrich waren nicht nur Zeitgenossen; sie eint auch der Horror vacui.
Aber ich bin architektonischer Laie; über weitere Verwandtschaft der beiden müsste Ware hier selbst schreiben, und nach seinem Aufenthalt in Darmstadt darf man da womöglich sogar etwas erwarten, denn einen enthusiastischeren Besucher selbst noch ästhetisch eher unverlockender Mathildenhöhe-Orte wie des ganz modernen Klimatechnikraums oder der Restaurierungswerkstatt, die erst bei der jüngst abgeschlossenen Renovierung eingerichtet wurden, habe ich noch nie erlebt. Klar, im Hochzeitsturm oder dem Großen Haus Glückert kann man nur ins Schwärmen kommen. Und vor dem schwer kriegsbeschädigten und schwer geschmacklos wiederaufgebauten Haus Olbrich ins Schimpfen. Aber auch in den Museen und einer Privatwohnung im Oberhessischen Haus, einem Spätwerk des jung verstorbenen Olbrich, konnte der amerikanische Gast gar nicht genug staunen, kommentieren, fotografieren.
Was wird er davon zeichnen? Sicher etwas im Tagebuch, das er für seine Tochter führt. Jeden Tag zwei Comicseiten, aber die sind strikt privat; noch nie ist auch nur ein einzelnes Panel daraus öffentlich geworden. Und sonst? Wir müssen abwarten. Bei Ware kann so etwas Jahre dauern.
Nostalgiker als Pioniere

Deutlich schneller erreichte mich jetzt eine Mathildenhöhe-Zeichnung des dritten Besuchers an jenem Tag in Darmstadt. Sein Name ist Christoph Mueller, Comiczeichner aus Brüssel, und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich den Namen vorher nur einmal von Ware gehört hatte, der mit Mueller befreundet ist. Beide haben sich vor etlichen Jahren anlässlich eines der Europabesuche von Ware kennengelernt, und da sie die Leidenschaft für Robert Crumb teilen, entwickelte sich ein regelmäßiger Austausch samt diverser Begegnungen – Nostalgiker unter sich. Die aus der Liebe zur Tradition grandios Neues machen. Wie es Olbrich in Darmstadt getan hat, wohin Mueller eigens aus Brüssel angereist war. Manchmal hat man Glück, nun kenne ich ihn. Und das sollten alle anderen Comic-Interessierten auch.
Mueller, um 1980 geboren (aus dem genauen Jahr macht er ein Geheimnis), wuchs die ersten sieben Jahre seines Lebens in den Niederlanden auf und zog dann mit seiner Mutter nach Deutschland, wo er sich nach eigener Aussage aber nie zu Hause fühlte. Gut also, dass seine Frau vor zwei Jahren eine Stelle in Brüssel antrat, sodass das Paar Aachen verlassen konnte, wo Mueller studiert und seitdem gelebt hatte. Für die belgische Comiczeitschrift „Spirou“ hat Mueller schon gearbeitet, aber seine Ästhetik ist geprägt durch amerikanische Vorbilder: Crumb vor allem, aber natürlich auch Ware. Alles ist buchstäblich Handwerk: Die Arbeit am Computer hat sich dieser Zeichner wieder abgewöhnt. Entstanden sind vor allem Cover und Plakate für Musikgruppen. Als Cover-Zeichner für den „New Yorker“ ist Mueller auch schon tätig geworden.
Auf einmal tut sich ein ganzer Kosmos auf

2013 erschien dann in Frankreich sein Comic „The Mighty Millborough – Contes d’un Homme de Goût“. Und nachdem ich aus Darmstadt wieder an meine Bücherregale zurückgekehrt war, fand ich zuverlässig die 2018 beim Comicsalon in Erlangen erstandene englischsprachige Überformat-Ausgabe dieses Comicstrips von Mueller, die ich seinerzeit von ihm selbst gekauft haben muss. Diese Begegnung hatte ich vergessen, nicht aber das wunderbare vierundzwanzigseitige Riesenheft, das seitdem – ich gebe zu: rein formatbedingt, nicht, weil ich um die Freundschaft gewusst hätte – direkt neben ähnlich großen Ware-Publikationen steht. Doch weil ich danach nie mehr etwas anderes von Mueller gesehen hatte und sein Name nicht eben ungewöhnlich ist, behielt ich nur die Geschichten in Erinnerung, nicht deren Urheber.
Dann flattert die Hochzeitsturm-Zeichnung bei mir ein, begleitet von zwei Heftpublikationen, die mich seitdem immer wieder erfreuen. Einmal die 45. Ausgabe des unregelmäßig erscheinenden amerikanischen Underground-Magazins „Mineshaft“, das für einen bestimmten Teil der dortigen Comicszene so etwas wie ein persönliches Mitteilungsblatt ist – in dieser jüngsten Ausgabe finden sich etwa Leserbriefe von Kim Deitch, Drew Friedman, Sammy Harkham, Glenn Head oder Robert Crumb. Außerdem von einigen dieser Autoren auch Zeichnungen. Ein sehr bösartig-witziger Comic der jungen Schweizerin Simone Baumann, die in diesem Blog vor einigen Jahren vorgestellt worden ist, ist ein Höhepunkt. Und dann gibt es so manches von Christoph Mueller: Illustrationen, Lettering und den hinreißenden fünfseitigen Comic „Taken – The Dutch Coast, 1984“, in dem Mueller vom Ausflug zweier Kinder in eine Höhle erzählt, der sich als so eigentümlich erweist, dass auch der Comic selbst zwei Seiten lang außer Form gerät, zum seitenarchitektonischen Chaos mutiert. Wer sehen will, was Chris Ware an Christoph Mueller begeistert, der findet hier einen ersten Hinweis.
Das Kindheitskiefernerlebnis

Und den schlagenden Beleg dafür gibt es im zweiten Heft, einem, das inhaltlich ganz von Mueller stammt, auch von ihm selbst verlegt wurde, schon 2023. „Partial“ heißt es, und es ist ausgewiesen als „A part of Mueller’s Outdoor Guide Books“ – von denen allerdings noch kein anderes erschienen ist. Dieses hat sechsunddreißig Seiten, und hinten ist eine ausfaltbare Karte eingeklebt, die das Areal der Brunssummerheide in der niederländischen Provinz Limburg zeigt: ein Naturschutzgebiet, das Mueller als Kind besucht hat und in das er 2016 im Rahmen einer sentimental journey zurückkehrte. Die Faszination für das dadurch wiedererweckte Kindheitserlebnis war so groß, dass Mueller anfing, darüber zu zeichnen: einen zweiseitigen Comic, der dann vier Jahre später in „Mineshaft“ Nr. 39 erschien. Thema war das Madeleine-Erlebnis des Kieferngeruchs in der Brunssummerheide.
Danach begann Mueller eine Serie von Zeichnungen dieser Kiefern. Achtzehn davon sind in „Partial“ zu sehen, dazu der wiederabgedruckte Comic von 2020 und zusätzliche Illustrationen, etwa von den Kiefern-Ablegern, die Mueller während der Pandemie daheim in Blumentöpfen aus Samen großzog, die er bei einem abermaligen Besuch in der Brunssummerheide gesammelt hatte. Es ist eine Publikation geworden, die in Gestus und Stimmung einmal mehr bei Crumb anknüpft, in ihrer zen-artigen Ruhe aber jeglicher Provokation entbehrt.
Das Cover wiederum zeigt in seiner typographischen und ornamentalen Gestaltung große Nähe zu Ware. Und die drei autobiographischen Texte, die die Zeichnungsfolge im Heft begleiten, erinnern auch an die persönlichen Bemerkungen, die sich immer wieder in Wares Comics finden. Da haben sich zwei gefunden, die ein gemeinsames Programm verfolgen, das aus der Bewahrung der Comic-Tradition, der Tiefe des persönlichen Zugriffs beim Inhalt und der Freude an ungewöhnlichen Erzählweisen besteht. Plus der Begeisterung für Architektur, wie in Darmstadt zu sehen war. Nachdem ich Mueller kennengelernt habe, will ich unbedingt mehr sehen.