Filmkritik zu „Rust“: Lohnt sich der Kinobesuch? | ABC-Z

Der Name einer Kamerafrau taucht im Abspann nicht oft bereits an zweiter Stelle, direkt nach dem des Regisseurs Joel Souza, auf. Beim Western „Rust“ ist der Grund dafür ein tragischer: Halyna Hutchins ist bei den Dreharbeiten ums Leben gekommen. Ein Schuss löste sich am zwölften Drehtag aus der Waffe, die der Hauptdarsteller Alec Baldwin in ihre Richtung hielt, als sie gerade die Kameraperspektive für die nächste Szene ausrichtete. Mehrere Gerichtsverfahren versuchten zu klären, wer die Schuld an Hutchins‘ Tod trug. Der Regieassistent, der Baldwin den Revolver gegeben hatte, mit dem Hinweis, es handle sich um eine „cold gun“, eine nicht-scharfe Waffe, bekam sechs Monate auf Bewährung. Die Waffenmeisterin musste wegen fahrlässiger Tötung achtzehn Monate in Haft. Das Verfahren gegen Baldwin wurde eingestellt. Warum an einem Filmset überhaupt scharfe Munition zu finden war, bleibt offen. Kann man nach einem solchen Schicksalsschlag noch weiterdrehen?
Die Familie der Kamerafrau wollte, dass weitergedreht wird
Hutchins‘ Familie sprach sich dafür aus. Nun kommt das Ergebnis ins Kino, ein klassischer Western, dessen Handlung die Tragödie seiner Entstehung seltsam spiegelt. Der junge Lucas versorgt eine kleine Farm in der Wildnis von Wyoming. Er säubert selbst im Schneeflockentreiben den Schweinestall, schleppt im Morgengrauen Wassereimer zum Haus, kümmert sich um seinen kleinen Bruder. Gemeinsam beten sie abends an den schlichten Gräbern ihrer Eltern; die Mutter hat die Diphtherie dahingerafft, der Vater ist kurz nach ihr gestorben. Lucas ist gerade mal dreizehn Jahre alt, hält die Wirtschaft aber mit dem eisernen Willen eines Erwachsenen am Leben. Als er mit dem alten Gewehr seines Vaters eines Morgens einen Wolf vom Grundstück verjagen will, trifft eine verirrte Kugel einen Reiter, der tot vom Pferd kippt. Ein Unglücksfall, aber das Gericht in der nächsten Stadt spricht von Mord und verhängt dafür ein Todesurteil; selbst das Bitten einer entfernten Verwandten, die mit dem zarten Alter des Jungen argumentiert, stößt auf taube Ohren. Die Rettung kommt in der Nacht in Gestalt des ehemaligen Bankräubers Harland Rust, der den Jungen aus dem Gefängnis befreit und sich wenig später als dessen Großvater vorstellt.
Es beginnt eine Flucht durch die Wildnis in Richtung mexikanischer Grenze, wobei sich schon bald eine Truppe US-Marshalls sowie diverse Kopfgeldjäger an die Fersen der beiden heften – der Australier Travis Fimmel hat hier besonders viel Spaß, den fiesesten unter den Verfolgern, einen Mann mit Spitznamen „Preacher“, zu geben. Dafür scheint er die Schurken in Westernklassikern studiert zu haben, denn sein stechender Blick überm diabolischen kleinen Grinsen, konterkariert von der eleganten Handhaltung ums Zaumzeug erinnert an Gestalten, die früher Lee van Cleef spielte.
Alec Baldwin hingegen legt seinen Harland Rust als schweigsamen Einzelgänger an, den ein Unglück in die Einsamkeit des Gesetzlosen getrieben hat. Sein Farmland spülte eine Überschwemmung fort, die Bank pfändete daraufhin die Äcker und das Haus, also überfiel Rust die Bank – und dann noch ein paar andere, weil’s so gut geklappt hat. Das erzählt er einmal am Lagerfeuer dem Jungen, in dessen Anwesenheit sein Grummeln weicher wird. Die Jahre auf der Flucht haben ihn hart gemacht, erst langsam lässt die Gegenwart des Enkels ihn auftauen. Die Szenen zwischen Patrick Scott McDermott, der den jungen Lucas spielt, und Alec Baldwin tragen den Film, der Jungschauspieler zeigt sich der charismatischen Präsenz Baldwins gewachsen.
Mehr Westernromantik geht kaum
An dessen Gesicht haben die Maskenbildner gute Arbeit geleistet: wettergegerbte Furchen durchziehen Stirn und Wangen, unter den Augen hängen Tränensäcke – die Verwitterungsspuren zeigen ihn als alten Westernhelden, der sich ein letztes Mal aufgerafft hat. Mit jedem Kampf weicht mehr Farbe aus diesem Gesicht, das Alter holt den Helden ein. Nach einem Unterschied zwischen verschiedenen Szenen, nach der Zäsur im Drehmaterial, die es nach dem Unglück am zwölften Drehtag hätte geben müssen, sucht man vergeblich. Nichts weist hier auf ein Davor oder ein Danach hin.
Die Bilder bleiben trotzdem im Kopf, vielleicht auch weil man sie mit dem Wissen um das Schicksal der Kamerafrau noch genauer studiert und viele interessante Perspektiven auf ikonische Bilder des Westernkanons findet: Wenn die beiden Jungen ans Grab ihrer Eltern treten, tun sie das als Silhouetten, schwarz gemalt von der goldglühenden untergehenden Sonne. Als Rust mit seinem Enkel flieht, zeigen kurze Szenen Eindrücke ihrer Reise, die von Nahaufnahmen zur großen Totale aufziehen: Erst platschen Pferdehufe durch kalte Bergbäche, dann umhüllen Staubwolken die Reiter in der Prärie, schließlich sind die beiden nur noch als kleine Figuren in der kargen Landschaft auszumachen, während rechts am Horizont Blitze aus dicken Wolken schießen – mehr Westernromantik geht kaum.
Das letzte Wort überlässt der Film der Kamerafrau. „What can we do to make this better?”, also „Was können wir tun, um die Sache hier noch besser zu machen?“, steht als Zitat am Ende von „Rust“ – dieses Motto trägt der ganze Film und zeigt damit, dass Kunst im besten Fall dazu dienen kann, selbst die sinnlosesten Läufe des Lebens zu etwas zu formen, das von Anmut, Schönheit und Dauer sein kann.