Film „Die Möllner Briefe“: Die hässliche und die gute Seite Deutschlands – Kultur | ABC-Z

İbrahim Arslan überlebte, weil seine Oma den damals Siebenjährigen in die Küche brachte, ihn unter den Tisch packte und in nasse Tücher wickelte. İbrahims Bruder Nazim, damals noch ein Baby, wurde von seiner Mutter aus dem Fenster in die Arme von Helfern geworfen, danach sprang sie selbst in die Tiefe. İbrahims und Nazims Schwester Yeliz, sie war zehn, aber starb in den Flammen. Ebenso ihre 14-jährige Cousine Ayşe Yılmaz und ihre Großmutter Bahide Arslan, die umkam, als sie versuchte, auch die Mädchen zu retten.
Zum einen erlebt man in diesem Film die dunkelsten Seiten der Bundesrepublik noch einmal nach. Das Böse, an das immer wieder erinnert werden muss, damit es nicht wieder und wieder passiert, ist der Hass: Yeliz, Ayşe und Bahide Arslan wurden von zwei Neonazis ermordet, die in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 Molotowcocktails auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln warfen. Es war der erste rassistisch motivierte Anschlag im wiedervereinten Deutschland, bei denen Menschen starben; neun weitere wurden zum Teil schwer verletzt.
In der Folge zeigte sich aber auch das Gute, in den Tagen und Wochen nach der Tat demonstrierten überall in Deutschland Menschen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, an den Lichterketten nahmen Hunderttausende teil. Viele Menschen schrieben auch Briefe an die Angehörigen der Toten – die titelgebenden „Möllner Briefe“. Es sind bewegende Zeugnisse des Mitgefühls, voller Scham und Trauer. Unter den Schreibern waren auch Kinder: „VON ANNEKE FÜR iBRAHIM ARSLAN“ steht da in unbeholfenen Großbuchstaben, dazu hat „Anneke“ ein Haus gezeichnet, mit rotem (brennenden) Dach und drei Figuren mit langen Haaren – die Toten. Aber auch Blumen, eine leuchtend gelbe Sonne, ein Schmetterling und viele bunte Herzen.
Der Brandanschlag hat die Überlebenden geprägt, die Traumata reichen bis in die nächste und übernächste Generation
Solche Anteilnahme kann trösten, das weiß jede und jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat – nur haben diese Briefe die Hinterbliebenen jahrzehntelang nicht erreicht. Die Möllner Stadtverwaltung hatte die Schreiben archiviert, statt sie an die türkischen Familien weiterzuleiten, erst 2019 entdeckte eine Studentin die Briefe im Archiv. Es ist eine Herz- und Gedankenlosigkeit von Bürokraten, vielleicht auch ein Zeichen von strukturellem Rassismus und in jedem Fall empörend.
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie unter sz.de/datenschutz.
Die „Möllner Briefe“, ihre Hintergrundgeschichte und das Leid der Opfer ins Zentrum eines Films zu rücken ist in diesen Zeiten, da die Rechtspopulismus immer mehr Zuspruch findet, nicht die schlechteste Idee. Martina Priessner begleitet in ihrer Doku İbrahim Arslan und seine Geschwister, die die Beileidsschreiben den Opferfamilien endlich zugänglich machen. Mittlerweile sind die Briefe am Dokumentationszentrum und Museum über Migration in Deutschland DOMiD. Dabei zeichnet Priessner, auch formal sehr zurückhaltend, Porträts der Überlebenden: wie deren Traumata sie prägen, wie sie damit umgehen. Dass eine solche Tat für die Opfer nachhaltig verheerend ist, bis in die nächste und übernächste Generation, lässt sich hier fast lehrbuchhaft studieren.
So hat der jüngere Bruder Nazim seinen Schmerz ein Leben lang buchstäblich in sich hineingefressen. Jetzt lässt er sich den Magen operativ verkleinern, um sein Übergewicht loszuwerden. Als Ehemann und Vater ist er so übervorsichtig und kontrollierend, dass beispielsweise nur er die Wohnungstür öffnen darf, wenn es klingelt.
Eine nach dem Brand geborene Schwester wurde nach der getöteten Yeliz benannt. Deren Mutter hat die Ohrringe ihrer toten Tochter, eine Zeichnung und ihren vom Feuer versengten Koran aufbewahrt. Um endlich Abstand zu bekommen, übergibt sie diese Dinge schließlich dem Museum. Und İbrahim, der von der Feuerwehr völlig unterkühlt vom Löschwasser aus dem ausgebrannten Haus gerettet wurde, hustet ständig, früher hatte er häufig Flashbacks. Um damit fertigzuwerden, erzählt er seine Geschichte in Schulen, leitet Workshops und organisiert Gedenkveranstaltungen in Mölln, bei denen anders als bei offiziellen Gedenken die Betroffenen das Wort haben. „Kein Schlussstrich“ steht auf seinem T-Shirt.

Der heutige Bürgermeister von Mölln will sich zum damaligen Verhalten der Stadtverwaltung und seines Amtsvorgängers nicht äußern, eine Entschuldigung hört man (zumindest im Film) von ihm aber nicht. Die Einfühlsamkeit der Museumsmitarbeiterin, der Yeldiz’ Mutter die Erinnerungsstücke ihrer toten Tochter übergibt, berührt hingegen tief. Beides ist Deutschland, beides ist in diesem stillen, bewegenden Film zu sehen.
Die Möllner Briefe, D 2025 – Regie, Buch: Martina Priessner. Kamera: Ayşe Alacakaptan, Julia Geiß, Ute Freund, Anne Misselwitz. Schnitt: Maja Tennstedt. Musik: Derya Yıldırım. Verleih: Kinofreund, 96 Minuten. Kinostart: 25.9.





















