Kultur

Film „Chaos und Stille“: Sie steigt dem Haus aufs Dach | ABC-Z

Klara (Sabine Timoteo) steigt aufs Dach. Das Mehrfamilienhaus, zu dem das Dach gehört, auf das sie steigt, gehört ihr. Sie räumt ihre Wohnung, verschenkt ihren Flügel, hebt viel Geld bei der Bank ab, eine Frau will nach oben und damit raus aus allen Bezügen. Da, auf dem Dach, liegt sie dann bei Sonne und Regen, bei Tag und bei Nacht. Warum sie das macht, bleibt eher im Vagen. Das Haus, dem sie aufs Dach steigt, liegt in Darmstadt, Südhessen, hier spielt „Chaos und Stille“, was schön ist, viel mehr deutsche Filme sollten in deutschen Städten spielen, die kriegszerstört, stinknormal und nicht einmal Hauptstädte sind.

Anatol Schuster, der Regisseur, ist in Darmstadt geboren. Er hat auf die Stadt keinen touristischen Blick. Seine Figuren sind viel unterwegs, hier fährt die Tram, da sieht man Tauchkurswerbung im Fenster, ein Dirty-Harry-Graffito am Kino, dort steht das ganz und gar typische Mietshaus – der Weltkulturerbestolz der Stadt, das Jugenstilviertel Mathildenhöhe, kommt dagegen nicht vor. Dafür jede Menge Darmstädter, von der Straße gecastet, als Fans der Dach-Aus(f)steigerin, nach und nach fast eine Sekte, oder als Gegner,. Man zerreißt sich auf Hessisch das Maul.

Berühmt ist Darmstadt unter einschlägig Interessierten immerhin für die Ferienkurse, das alle zwei Jahre stattfindende Festival für Neue Musik. Hier hakt „Chaos und Stille“, ein Film, der ziemlich unberechenbar hier und da ein- und da und dort aushakt, dann doch mit einiger Begeisterung ein. Im Haus, das Klara gehört, leben nämlich Jean (Anton von Lucke) und seine Frau Helena (Maria Spanring). Ihnen hat Klara den Flügel geschenkt, Helena ist Pianistin (und verdient Geld als Klavierlehrerin), Jean ist Komponist für Neue Musik, ein hartes Brot. Aber so kommt viel Neue Musik in den Film. Und auch alte, denn bei Beerdigungen, für Jean ein Geigenjob, hören die Lebenden und die Toten doch lieber Barock.

„Chaos und Stille“ war nur einer von zwei Filmen von Anatol Schuster, die in diesem Jahr einen (kleinen) Kinostart hatten. Der andere war der exzellente „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“, da zeichnete Schuster als Co-Regisseur neben Edgar Reitz. Reitz ist eine Art Mentor, Schuster war zweiter Regieassistent bei „Die andere Heimat“. Und an Reitz’ epochales Generationenporträt „Die zweite Heimat“ aus den frühen neunziger Jahren fühlt man sich schon wegen der vielen Neuen Musik durchaus erinnert.

Chaos und Stille

„Chaos und Stille“. Regie: Anatol Schuster. Mit Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring u. a. Deutschland 2025, 83 Min.

Die DVD ist ab rund 14 Euro im Handel erhältlich.

Aber Schuster macht doch sein eigenes, manchmal ziemlich kauziges Ding. Zu sagen, dass „Chaos und Stille“ sprunghaft sei, ist noch untertrieben. Vom unterprivilegierten Wunderkind, das das Klavierspielen an einem Stoff-Keyboard gelernt hat, zum Intendanten-Arschloch, das den Senderetat für Neue Musik streicht: alles drin. Auch ein Psycho-Professor als Klara-Versteher, den der wunderbare Michael Wittenborn spielt. Oder ein Obdachloser mit Aluhut, der den Autoverkehr in den Straßen Darmstadts unsicher macht. Oder ein Mann, der Sex mit Klara hat, dann aufs Dach seines eigenen Hauses steigt und dabei tödlich verunfallt.

Nicht alles, was hier passiert, macht bei Licht betrachtet viel Sinn. Die Tonfälle wechseln ganz unmoduliert, was passiert und wie es gezeigt wird, ist mal komisch, mal prätentiös, mal grotesk und ein paar Mal zu oft wird – wie schon im Titel – nicht sonderlich subtil über den Sinn des Lebens philosophiert. Eines macht der Film aber nicht: einen Kompromiss. Das Potenzial zum Sentiment schneidet der Schnitt einfach ab. Die Musik ist toll, aber niemals gefällig. Hier macht einer, kurz gesagt, genau das, was er will. Hebt ab und bleibt doch sehr geerdet: in Darmstadt.

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