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Erdoğans letzter Plan lautet, die Kurden zu umarmen | ABC-Z

Vermutlich haben Sie irgendwo Bilder der symbolischen Zeremonie gesehen: 30 Kämpferinnen und Kämpfer der kurdischen PKK, die seit 41 Jahren gegen die Türkei gekämpft hat, traten letzte Woche im Nordirak zu einer langen Reihe an, warfen vor laufenden Kameras ihre Waffen und Munitionsgürtel in eine große Feuerschale und verbrannten sie. Ein kurzer Blick in die Flammen, dann drehten sie sich wortlos um und kehrten in ihren Unterschlupf zurück.

Es handelte sich um eine Art Ritual des Abschieds von den Waffen, nachdem der in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilte PKK-Chef Abdullah Öcalan angeordnet hatte, die Organisation aufzulösen. Die PKK gilt in der Europäischen Union und den USA wie in der Türkei als terroristische Vereinigung, sie hat rund 3000 Milizionäre unter Waffen. Ist das Problem, das beinahe 50.000 Menschen das Leben gekostet und die Verhältnisse in der Türkei in finanzieller, sozialer und politischer Hinsicht erschüttert hat, mit dem Verbrennen von 30 Gewehren nun gelöst?

Einen solchen Film haben wir schon einmal gesehen

Diese Frage lässt sich nicht ohne Weiteres mit „Ja“ beantworten. Denn einen solchen „Feuerfilm“, wie er jetzt vor dem Unterschlupf im Nordirak entstand, haben wir schon einmal gesehen. 2009 hatte die Regierung Erdoğan eine erste Friedensphase zwischen Ankara und der PKK eingeleitet, doch sie wurde wieder ausgesetzt, weil sie die Regierung Stimmen kostete. Die Friedensverhandlungen hatten die politische Bewegung der Kurden gestärkt, sodass Erdoğan bei den Wahlen 2015 erstmals seine zum Alleinregieren nötige Mehrheit verlor.

Er war es gewohnt, allein zu herrschen, nun verhinderte er die Bildung einer Koalition, um die Macht nicht teilen zu müssen. Nachdem er die Friedensverhandlungen beendet hatte und eine blutige Terrorwelle durch das Land geschwappt war, setzte Erdoğan Neuwahlen an. Den Wahlkampf führte er mit nationalistischer Rhetorik und konnte seine Regierungsmehrheit zurückgewinnen. Seither bekämpfte er die kurdische politische Bewegung und alle, die zur Kooperation mit ihr bereit waren. Er ließ kurdische Politiker inhaftieren und übte Druck auf die Zivilgesellschaft aus. Seit 2015 steuert er mit seinem Bündnispartner, der ultranationalistischen MHP, das Land auf einem islamistischen, türkisch-nationalistischen Kurs.

Auf einmal betrachtete Erdoğan es schon als Unterstützung für Terrorismus, wenn jemand kurdischen Politikern die Hand schüttelte. Seine Wählerschaft konsolidierte er mit polarisierenden Reden. Auf diese Weise gelang es ihm nach dem Putschversuch 2016, das Referendum 2017 für eine Systemänderung zu gewinnen und 2018 wie auch 2023 wiedergewählt zu werden und sich mit sultangleichen Befugnissen ausstatten zu lassen.

Die CHP vereint die Opposition

Im ersten Brief, den ich Ihnen nach seinem Wahlsieg vom 28. Mai 2023 schrieb, merkte ich an, sein jüngster, einem Pyrrhussieg gleichender Triumph könnte bedeuten, mit dem Sieg verloren zu haben. Als ich die damalige Kolumne früh am Morgen nach der Wahl verfasste, nahm der strahlende Star der Opposition, Ekrem Imamoğlu, ein Video auf und teilte es in den sozialen Medien. „Niemand soll besorgt sein, alles fängt wieder neu an“, ermutigte er die Wähler der Opposition. Und mit den Worten: „Wir werden nicht länger das Gleiche tun und auf ein anderes Ergebnis hoffen“, gab er den Startschuss für Veränderung in seiner Partei CHP.

Das Video war ein erster Funke dessen, was wir zurzeit erleben. Das von Imamoğlu entzündete Feuer des Aufstands in der CHP breitete sich aus. Sechs Monate nachdem Parteichef Kılıçdaroğlu bei der Präsidentschaftswahl gegen Erdoğan unterlegen war, verlor er auf dem Parteitag auch den CHP-Vorsitz. Anstelle des damals 74-jährigen Kılıçdaroğlu wurde der von Imamoğlu unterstützte 48-jährige Özgür Özel an die Parteispitze gewählt. Die neue CHP-Führung hatte es nicht leicht, nur fünf Monate nach dem Parteitag vom November 2023 standen Kommunalwahlen an.

Bülent Mumayprivat

Es war schwierig, die durch die Wahlniederlage ausgelöste Frustration zu überwinden und die oppositionellen Wähler gegen Erdoğans Partei zu vereinen. Doch gemeinsam mit Imamoğlu gelang dem neuen Vorsitzenden Özel das Kunststück. Sie unternahmen einen weiteren riskanten Schritt, der bis dahin nicht gelungen war und den man sich aufgrund der von der Regierung verbreiteten Angst kaum traute. Sie schafften es, die von Erdoğan kriminalisierte kurdische politische Bewegung und ihre Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Wie sie das machten? Sie nahmen kurdische Vertreter in die CHP-Listen auf, damit die kurdische Wählerschaft repräsentiert wäre. Diese Politik machte die CHP bei den Kommunalwahlen am 31. März 2024 nach 47 Jahren erstmals wieder zur stärksten Partei. Und brachte Erdoğan die größte Niederlage seiner politischen Karriere bei.

Für Erdoğan ist die Opposition die „Gefahr Nummer eins“

Erdoğan war bewusst, was der Aufwind der Opposition für ihn bedeuten würde. Für seine erneute Kandidatur braucht es eine Verfassungsänderung, das aber, so wusste er, wäre unmöglich, solange die Opposition die stärkste Partei blieb. Ein paar Monate hielt er sich im Hintergrund. Die mutmaßlich in dieser Zeit ausgebrütete Strategie, mit den Kurden das CHP-Bündnis zu zerschlagen, wurde ab Oktober 2024 umgesetzt. Die Aussöhnung mit der PKK wurde eingeleitet und begonnen, sie als „Gefahr Nummer eins“ für das Land gegen die CHP auszutauschen. Plötzlich reichte Erdoğans rechtsextremer Bündnispartner Devlet Bahçeli der Kurdenpartei die Hand, obwohl er zuvor deren Verbot und die Streichung der Gehälter für ihre Abgeordneten gefordert hatte. Er schlug vor, Öcalan solle eine Rede im Parlament halten und seine Organisation auflösen. Mit Verweis auf das „Recht auf Hoffnung“ stellte er Öcalans Freilassung in Aussicht. Gleichzeitig wurde in einem Istanbuler Bezirk der Bürgermeister der CHP verhaftet, die Vertreter der Kurden in ihre Kommunalverwaltungen aufgenommen hatte. Vorgeworfen wurde ihm Kooperation mit der Terrororganisation.

Anfang 2025 trieb der Palast seine Strategie stärker voran. Der Friedensprozess mit den Kurden, der genau zehn Jahre zuvor aufgekündigt worden war, weil er Stimmen gekostet hatte, wurde beschleunigt. Offiziellen Delegationen der Kurdenpartei DEM wurde erlaubt, Öcalan nach Jahren der Isolation in der Haft auf einer Insel im Marmarameer zu besuchen. Öcalans Botschaften wurden mit der Staatsführung geteilt in den Medien veröffentlicht. Parallel dazu aber wurde am 19. März Ekrem Imamoğlu, der die Phase der Wandlung in der CHP angestoßen hatte und soeben zum Präsidentschaftskandidaten seiner Partei gekürt worden war, verhaftet. Der Vorwurf lautete Korruption und Terrorismusunterstützung. Anschließend gab es beinahe täglich frühmorgendliche Razzien in CHP-Kommunen. Bisher 17 CHP-Bürgermeister von Kommunen wie Antalya, der Tourismushauptstadt des Landes, bis hin zu kleinen Bezirken wurden hinter Gitter gebracht. Ebenso etliche Hundert Beamte der Kommunalverwaltungen.

Das Bestreben, die Kurden für sich zu gewinnen und an ihrer Stelle die CHP zu kriminalisieren, blieb nicht darauf beschränkt. Hinzu kam der Versuch, die Parteiführung unter Özgür Özel, der die CHP zur stärksten Partei gemacht hatte, zu beseitigen. Ein fingierter Prozess wurde angestrengt, um den Parteitag, auf dem Özel zum Vorsitzenden gewählt worden war, zu annullieren. Zudem soll die Immunität von 61 der 125 CHP-Abgeordneten im Parlament aufgehoben werden, darunter auch die des Parteichefs. Hauptziel dabei ist es, die CHP des Teams zu berauben, das für ihren Erfolg verantwortlich ist, und die alten Kader wieder einzusetzen, die dreizehn Wahlen gegen Erdoğan verloren hatten. Damit und mit dem Zugeständnis einiger kleiner Freiheiten an die Kurden will Erdoğan dafür sorgen, dass die Verfassungsänderung durchkommt und der Weg für den Übergang zum permanenten Präsidialsystem geebnet wird.

Eingangs hatte ich meine Zweifel daran geäußert, dass die symbolische Handlung der PKK, 30 Gewehre zu verbrennen, zu einem dauerhaften Frieden mit den Kurden führt. Denn offensichtlich ist Erdoğans vorrangige Motivation für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses nicht, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen, sondern seine eigene politische Zukunft. Sollte er feststellen, dass der Prozess ihm keine Stimmen einbringt, stellt er ihn womöglich erneut auf einen Schlag ein.

Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung unterstützt das Ende des Terrors und die Niederlegung der Waffen durch die PKK. Allerdings meinen auch 70 Prozent derselben Bevölkerung, es wäre nicht gut für das Land, wenn Erdoğan nach 23 Jahren ununterbrochener Herrschaft wiedergewählt würde. Kann jemand, der die stärkste Partei des Landes auf undemokratischen Wegen außer Gefecht setzt, dem Land Frieden bringen? Wohl kaum. Denn wenn Frieden und Demokratie Einzug in dieses Land halten, bleibt Erdoğan nicht. Bleibt hingegen Erdoğan, wird es keine Demokratie geben. Wie es sie heute nicht gibt.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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