Belarus: Lukaschenkos vorgetäuschte Menschlichkeit | tagesschau.de | ABC-Z

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Im Juni ließ der belarusische Machthaber Lukaschenko einen bekannten Oppositionellen frei. Das schürt Hoffnungen bei Angehörigen von weiter inhaftierten Regimegegnern – doch von politischem Tauwetter kann keine Rede sein.
In einer kleinen Sozialwohnung in der Warschauer Innenstadt hocken Nastia und ihre Brüder auf dem Teppichboden und spielen mit Lego-Bausteinen. Vor fünf Jahren ist Nastia mit ihrer Großmutter und ihrem Bruder nach Polen geflohen – aus Angst, die belarusischen Behörden könnten die Kinder in ein Heim stecken.
Nastia war gerade mal vier Jahre alt, als ihre Eltern in Belarus verhaftet wurden. Ihre Mutter habe ihr sehr gefehlt, erzählt sie: “Sie war in der Strafkolonie, in Einzelhaft und an anderen Orten.”
Nastias Mutter war zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Im Dezember 2024 wurde sie vorzeitig aus der Haft entlassen. Sie gehörte der siebten Begnadigungswelle für politische Gefangene in Belarus an.
Antonina Konowalowa beschreibt die unmenschlichen Zustände, die sie während ihrer Haft in Belarus erleiden musste.
“Bitte bring meine Mutter zurück”
Die kleine Nastia allerdings hat eine andere Erklärung dafür, dass ihre Mutter früher rauskam: Zu Weihnachten hat sie einen Brief an Väterchen Frost geschrieben: “Bitte bring meine Mutter zurück. Sie soll so schnell wie möglich freikommen.” Und dann habe es geklappt, erzählt Nastia im ARD-Interview für den Weltspiegel.
Nastias Eltern wurden verhaftet, weil sie – wie Zehntausende andere Menschen in Belarus – im Jahr 2020 friedlich protestierten. Vor der umstrittenen Wahl vor fünf Jahren hatte Nastias Mutter mit Unterschriftenaktionen die Gegenkandidaten von Machthaber Alexander Lukaschenko unterstützt: Sergej Tichanowski und später seine Frau Swetlana Tichanowskaja. Sicherheitskräfte hatten die Proteste niedergeprügelt.
Seit mehr als 30 Jahren ist Lukaschenko nun an der Macht. Wer gegen ihn ist, kommt in Haft. Auch Nastias Eltern. Der Vorwurf: Teilnahme und Vorbereitung von Massenunruhen.
Unmenschliche Bedingungen für politische Häftlinge
Vier Jahre und vier Monate: ohne ihre Kinder, ohne ihren Mann. In der Haft musste Antonina Konowalowa vieles erleiden, weil sie politisch auf der falschen Seite steht: Bei ihrer Verhaftung habe sie sich an eine Wand stellen müssen, die voller Blut war.
In den Jahren danach, im Gefängnis und im Straflager, habe sie sich manchmal fast gewünscht, auch geschlagen zu werden – denn blaue Flecken, sagt sie, würden verheilen.
Den psychischen Druck habe sie am Ende nicht mehr ausgehalten: Ihr wurde gesagt, dass ihre Kinder sie vergessen würden oder dass auch ihr Vater in Haft komme. Sie musste nachts in einem nassen Bett schlafen, unter ihrem Kissen lagen gebrauchte Damenbinden – direkt aus dem Mülleimer der Toiletten: “All das und mehr, damit ich mich schuldig bekenne und Begnadigungspapiere unterschreibe, für etwas, was ich nicht getan habe.”
Den Frauen in der Haft wurde verboten, mit Antonina zu sprechen. Politische Gefangene wie sie müssen ein gelbes Abzeichen tragen, um immer im Visier zu sein: “Man hat kein Recht auf eine Stimme, keine Wahl – weder in der Freiheit noch in der Strafkolonie.”
Lukaschenko will sich als Humanist darstellen
Schlagzeilen macht Belarus allerdings in letzter Zeit damit: Machthaber Lukaschenko begnadigt Gefangene. Vor drei Wochen sogar einen der wichtigsten Oppositionellen: Sergej Tichanowski. Machthaber Lukaschenko lässt sich dafür als Humanist feiern.
In einer Rede zum Unabhängigkeitstag Anfang Juli nahm er Stellung zu den Begnadigungswellen: “Was ist unser Ziel? Dass sie im Gefängnis verrecken? Gott bewahre, natürlich nicht.”
Das wolle er sich nicht vorwerfen lassen. Ihm würden manche Leute sagen, die politischen Gefangenen seien Kriminelle, Tiere gar. Er aber – so sagte der Machthaber es in seiner Rede – halte sie für “Menschen”. Für Menschen, die in der Haft unmenschlich behandelt werden.
Mehr als 1100 Oppositionelle weiter in Haft
Mehr als 1.100 politische Gefangene sitzen noch ein. Manche sterben auch im Gefängnis – wie Ales Puschkin. In der Warschauer Innenstadt zeigt uns eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Viasna ein Konterfei von ihm. Eine Hommage an den Künstler, der mit seinen Aktionen Machthaber Lukaschenko heftig kritisiert hatte.
Nach zwei Jahren Haft: im Gefängnis verstorben – die Umstände unklar. Die Aktivistin der belarusischen Menschenrechtsorganisation Viasna will nicht dasselbe Schicksal teilen. Deshalb zeigt sie vor der Kamera nicht ihr Gesicht noch nennen wir ihren Namen.
Zwar seien seit letztem Sommer mehr als 320 politische Häftlinge freigelassen worden. “In derselben Zeit haben wir allerdings jeden Monat mindestens 20 neue politische Gefangene verzeichnet. Es sind vermutlich noch viel mehr, denn wir bekommen nicht von allen politischen Gefangenen Informationen darüber, dass sie in Haft sind”.
Von einer Art Tauwetter in Belarus zu sprechen, sei daher viel zu verfrüht. Das könne man erst tun, wenn alle politischen Gefangenen begnadigt seien. Einige frei lassen und andere wieder als Faustpfand festnehmen – “das ist einfach Lukaschenkos Spiel”.
Beitrag in sozialen Medien kann mit Haft bestraft werden
Für westliche Journalisten ist es extrem schwierig, Menschen im Land selbst zu interviewen. Selten gibt es Akkreditierungen für Belarus – und wenn es sie gibt, traut sich niemand, offen mit uns zu sprechen. Zu groß ist die Angst davor, auch in Haft zu kommen. Denn schon ein einziger Beitrag in den sozialen Medien oder eine Protestaktion kann sofort mit Gefängnis bestraft werden.
Eine Seniorin aus Minsk hat uns verdeckt Videonachrichten geschickt. Sie berichtet, dass die Repressionen seit 2020 anhalten und zunehmen würden, fast jeden Tag würde jemand festgenommen, sagt sie: “Der Schmerz und der Groll, dass wir 2020 keinen Erfolg hatten, halten uns davon ab, unsere Schultern jetzt gerade zu richten.”
Gerade sei nicht der richtige Zeitpunkt, offen in die Opposition zu gehen: “Die Belarusen wissen, wie sie ihre Gefühle verbergen und so handeln können, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen.”
Die Opposition in Belarus schweigt oder sitzt im Gefängnis. So wie Nastias Vater. Sie hofft sehr darauf, dass auch er, wie ihre Mutter, bald freikommt. Sie wisse nicht, wie es ihm geht: “Ich weiß nicht einmal mehr, wie er aussieht.”
Diese und weitere Reportagen sehen Sie am Sonntag um 18:30 Uhr im Weltspiegel im Ersten.