Fachkräftemangel in Deutschland: Was sind die Ursachen? | ABC-Z

Morgens halb neun, irgendwo in Deutschland. Die Schlange beim Bäcker reicht bis vor die Ladentür. Nicht weil hier die Kardamom-Knoten berühmt sind, sondern weil heute nur eine Verkäuferin im Dienst ist. Diese eine beugt sich jetzt über ein aufgeschnittenes Brötchen. Jemand ganz vorne in der Schlange hat zur Rushhour einen Extrawunsch. Brötchen mit Käse und Gurke, aber ohne Butter und Tomate. Ganz wichtig, keine Butter. Alle anderen – warten.
Während ich keine Geduld habe und gehe, ohne Brötchen gekauft zu haben, denke ich darüber nach, wer jemals auf die Idee kommen konnte, dass man beim Bäcker am frühen Morgen Brötchen konfigurieren darf wie bei Audi einen Neuwagen. Derjenige muss diesen Einfall unter vollkommen anderen Bedingungen gehabt haben. Heute nämlich sieht es häufig so aus: Kleinkinder können in der Kita nicht betreut, Schüler in der Schule nicht beschult und Alte nicht gepflegt werden. Der nächste Termin auf dem Amt – in einem halben Jahr. Im ICE prüft auf der Anderthalb-Stunden-Strecke, die ich regelmäßig nutze, manchmal niemand mehr mein Ticket. Neulich rief ich bei meiner Ärztin an. Die Durchsage: „Wegen Personalmangels ist das Telefon heute nicht besetzt.“ Mit anderen Worten: Sie nicht auch noch. Wir sind zu wenige. Hilfe!
Als jemand, der nicht gerade an alltagskritischer Stelle arbeitet, fühle ich mich in solchen Momenten direkt schlecht. Denn es fehlen ja eindeutig Leute da draußen, die unseren Alltag wirklich am Laufen halten, auch meinen. Es bedeutet nicht, dass jede Arbeitskraft unentbehrlich wäre, wie es der großflächige Stellenabbau in einigen Unternehmen gerade zeigt. Und es bedeutet – was für ein Segen – auch nicht, dass unser Sozialsystem vor dem Zusammenbruch steht. Es springen auch weiterhin genügend Menschen für uns viele in die Bresche. Aber dass die wenigen zu wenige sind, ist längst in meinem Alltag angekommen.
„Es ist niemand da“, erzählt die hochschwangere Grundschullehrerin, die ich vor einigen Monaten an einem Tag im September treffe. Bis zu ihrem damals nahenden Mutterschutz musste sie für ein paar Wochen eine erste Klasse übernehmen, weil keiner die Kinder von Beginn an hätte begleiten können. Eine andere Lehrerin einer ersten Klasse meldet sich zum Halbjahr bei den Eltern: Dass die Vorschule ihrer Kinder in der Kita ausgefallen ist, mache sich bemerkbar.
Zu viele Selbstverwirklicher, zu wenige Alltagsretter?
Dass wir gerade mit zu wenigen Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen dastehen, ist keine Neuigkeit. Aber woran liegt das? Ist die Gruppe der beruflichen Selbstverwirklicher zu groß und jene der Alltagsretter zu klein? Sind wir zum Beispiel zu viele Journalistinnen, Kunsthistorikerinnen, Marketingstrateginnen, aber zu wenige Lehrerinnen?
„Die Idee, dass Selbstverwirklichung in der Arbeit wichtiger wird, ist seit vierzig Jahren im Aufstieg“, sagt der Soziologe Professor Philipp Staab, der sich an der Berliner Humboldt-Universität mit Arbeitsthemen beschäftigt und die Veränderung auf den wirtschaftlichen Strukturwandel zurückführt. „Nach erfolgreichen Automatisierungsprozessen in der Industrie hat sich unsere hoch industrialisierte Gesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt.“ Es bildeten sich zwei Gruppen: „Die eine entstand aus der industriellen Arbeiterschaft, insbesondere den Töchtern, die in die Sorgeberufe gegangen sind.“ Care-Arbeit wurde zumindest zum Teil professionalisiert, weil auch die Frauen auf den Arbeitsmarkt geholt wurden. „Und in der zweiten Gruppe musste die Kreativität der Leute entfesselt werden.“ Wir begriffen uns schließlich nicht mehr allein als Industrie-, sondern auch als Dienstleistungsnation. „Da ging es aus dem mittleren Management der Automobil- und Chemieindustrie in die Werbeabteilungen nach Berlin-Mitte.“ Berufliche Selbstverwirklichung wurde gesellschaftlich anerkannt und damit beliebt und cool.

Das System trug. Jedenfalls, solange noch genügend Menschen am Arbeitsmarkt tätig waren. Hier die junge Werberin, dort die mittelalte Lehrerin. Die heute im Ruhestand ist. So wie auch die Erzieherin, auf die wegen der Geburtenrückgänge zwischen 1990 und 1995 sowie zwischen 1998 und 2011 vielleicht gar keine jüngere nachfolgen kann.
„Demographische Panik“ nennt Staab dieses Dilemma, in dem wir jetzt stecken. „Die Boomer haben das Selbstverwirklichungsparadigma erst an die Arbeitsmärkte getragen. Und sie jammern jetzt, dass ihre Kinder und zunehmend ihre Enkel nicht genügend arbeiten wollen.“
Das Phänomen Work-Life-Balance ist gar nicht so neu
Dabei nahm die Pro-Kopf-Arbeitszeit seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts immer weiter ab. „Samstags gehört Vati mir“, der Gewerkschaftsspruch in den Fünfzigerjahren, der in den Sechzigern zur Fünf-Tage-Woche führte, ist das bekannteste Beispiel. „Die Leute wünschen sich grundsätzlich mehr Freizeit“, sagt Staab. So war es schon, als die Boomer voll im Beruf standen. Die nun häufig mit Häme betrachtete Work-Life-Balance der Jüngeren ist somit nur der aktuelle Ausdruck einer langen Entwicklung.
Auch die war so erwünscht: Nachdem die Leute in den Sechzigerjahren ausgestattet waren mit Häusern, Autos und Kühlschränken, musste etwas Neues zum Geldausgeben her, erklärt Staab. Denn mehr Freizeit bedeutet mehr Zeit für Konsum. Im Einkaufszentrum, im Biergarten, im Freizeitpark, im Urlaub. Das tat der Wirtschaft gut.
Für unsere mit Alltagsannehmlichkeiten längst vertraute Konsumgesellschaft ist der Schock umso größer, wenn wir im Biergarten jetzt manchmal sehr lange nach der einen Bedienung Ausschau halten müssen. Oder wenn die Jalousien des Bordrestaurants im Zug heruntergelassen sind. Mag sein, dass sich die Bahnmitarbeiterin auf das Angebot eingelassen hat, mit dem ihr Unternehmen seit Jahren wirbt: „Die Wahl haben: mehr Geld oder mehr Zeit. Entscheide selbst, was dir wichtig ist.“

Aber mehr Zeit ist eben nicht gleichzusetzen damit, dass sich vermeintlich niemand mehr anstrengen mag. „Die Leute brauchen diese Zeit einfach, um sich zu kümmern, denn der Arbeitsmarkt regelt es nicht“, sagt Staab. Im System steht niemand bereit für die kleinen Kinder, die alten Eltern. „Den Leuten sind tausend Euro nicht wichtiger als die Pflege der Mama“, sagt Staab. „So rutscht das nun wieder in die Familien.“
Ohne Zuwanderung würde es schon jetzt nicht gehen. Aber auch mit den Zugewanderten, denen wir häufig jahrelange Weiterbildungen und Anerkennungsverfahren abverlangen, bevor wir sie für uns arbeiten lassen, werden die wenigen nicht viele mehr. Ein Freund – von Haus aus CDU-geprägt – schrieb vor der Bundestagswahl seinem Abgeordneten, er sei enttäuscht über die Position der Partei in der Migrationsdebatte. Unter anderem, weil der Personalmangel doch offenkundig so akut sei. Der Abgeordnete antwortete: Unrealistisch, dass am Fachkräftemangel etwas zu ändern sei.
Geduld. Nachsehen. Warten.
Selbst Künstliche Intelligenz wird erst mal keine wirkliche Erleichterung bringen, sagt Soziologe Philipp Staab und beschreibt, wie diese Technologien in erster Linie die wenigen fordern, noch effizienter zu arbeiten. „Kurzfristig kommen wir da nicht raus“, sagt Staab. „Was wir erleben werden, ist eine Anpassung der Erwartung.“ Also Geduld. Nachsehen. Warten.
Eigentlich. Denn der Sound zur Planänderung ist das spontane – und den wenigen gegenüber sehr überhebliche – Zischen: „tse“. So gaben zum Beispiel neulich gut hundert Flugpassagiere nach der Landung gleichzeitig Laut. Auch ich. Es war ein Freitagabend, das Ende einer Arbeitswoche. Der Pilot hatte gerade Folgendes durchgesagt: „Meine Damen und Herren, man kann ja schon froh sein, wenn man heute ein Schulterzucken bekommt. Auch das bekommen wir gerade nicht. Und damit steht kein Bus bereit, der Sie zum Terminal bringt.“
„Tse“ kam mir auch über die Lippen, als ich neulich eine Stunde beim Friseur wartete. Jemand war krank geworden, und derjenige, der sonst zuverlässig da ist, ein Syrer, der seit wenigen Jahren in Deutschland lebt, fehlte. Irgendwann fragte ich nach. Die schöne Nachricht: Der Syrer mache seinen Meister. Deshalb könne er samstags gerade nicht arbeiten.
Manchmal müssen die Dinge schlechter werden, bevor sie sich verbessern. Häufig ist die Lage trotzdem aussichtslos. Wenn zum Beispiel der Umzug im Frühjahr auf den Herbst verlegt wird, weil der Neubau einfach nicht fertig wird. Oder wenn an einem Montagmorgen keine Betreuung für die Kinder steht. „Aber die Erzieherinnen in der Kita haben selbst Kinder und stehen unter dem gleichen Druck“, sagt Staab. „Eigentlich müssten wir zur reproduktionsorientierten Gesellschaft werden. Stattdessen bürden wir den Leuten immer mehr auf, statt sie zu entlasten.“
In letzter Instanz fällt dann die Entscheidung gegen ein Kind. Seit 2022 kommen bei uns – mal wieder – weniger Kinder zur Welt. Es ist der dritte Geburtenrückgang seit 1990.
Zumindest für die Eltern dieser 2022er-Kinder ist das ausnahmsweise entlastend. Die bröckelnden Strukturen der stärkeren Jahrgänge stehen noch und genügen. Spontan in den Vor-Fußball-Kurs reinrutschen – kein Thema. Liedergarten – machbar. Die heute Zwei- bis Dreijährigen bekommen jetzt an einigen Orten sogar einfacher einen Kitaplatz. Die wenigen werden damit in Zukunft allerdings noch weniger sein.