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“Extreme Fälle” nehmen zu: Wie Chinas Führung Amokläufe vertuschen will | ABC-Z


“Extreme Fälle” nehmen zu

Wie Chinas Führung Amokläufe vertuschen will

Eine Serie von blutigen Amoktaten sorgt in China zuletzt für Aufsehen. Präsident Xi gefällt das nicht. Weisen die Gewaltakte doch auf ein erhöhtes Stresslevel der eigenen Bürger. Wie in der Corona-Pandemie reagiert Peking mit Strenge und dem Versuch, die Konflikte im Keim zu ersticken.

Die Anweisung kam von ganz oben: Präsident Xi Jinping forderte die lokalen Regierungen im Land zu Maßnahmen auf, um weitere “extreme Fälle” zu verhindern. Amoktaten sind zwar auch in China nicht grundsätzlich etwas Neues. Aber zuletzt sorgten Angriffe, bei denen etliche Menschen erstochen oder von Autos überfahren wurden, für große Aufmerksamkeit. Und das möchte die kommunistische Führung offenbar um jeden Preis verhindern.

Vertreter der Behörden in vielen Städten und Regionen betonten schnell, sie würden jegliche Art von persönlichen Streitigkeiten, die zu aggressivem Verhalten führen könnten, genauer unter die Lupe nehmen – von Eheproblemen bis hin zu Meinungsverschiedenheiten in Erbangelegenheiten. Kritiker des chinesischen Regierungssystems fürchten deswegen, dass die Eingriffe des Staates in die Privatsphäre der Menschen noch umfassender werden könnten.

Allein im November kam es in China zu mindestens drei Amoktaten. In der Provinz Hunan fuhr ein Mann, der bei Investitionen viel Geld verloren hatte, vor einer Grundschule mit einem Auto in eine Menschenmenge; 30 Personen wurden verletzt. Ein Student, der seine Prüfungen nicht bestanden hatte, erstach in einer Berufsschule in der Stadt Yixing acht Menschen. Der folgenschwerste Fall ereignete sich im südlichen Zhuhai, wo ein Mann, mutmaßlich aus Ärger über den Verlauf seiner Scheidung, bei einer Amokfahrt 35 Menschen tötete.

“Die Menschen können die Gesellschaft nicht mehr ertragen”

Auch wenn die Motive der Täter verschieden gewesen sein mögen, sehen Experten sehr wohl einen Zusammenhang – nämlich ein überwältigendes Gefühl, innerhalb der chinesischen Gesellschaft unter Druck gesetzt zu werden. Die Menschen hätten “das tiefe Gefühl, dass diese Gesellschaft sehr ungerecht ist und sie können es nicht mehr ertragen”, sagt Wu Qiang, ein ehemaliger Professor für Politikwissenschaften.

Seit 2015 nimmt die chinesische Polizei systematisch Menschenrechtsanwälte und Mitglieder von Aktivistengruppen ins Visier. Viele wurden ins Gefängnis gesteckt, andere werden durch massive Überwachung in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Damit ist die Zivilgesellschaft, die sich etwa ab der Jahrtausendwende entwickelt hatte, wieder weitgehend zerstört worden. Der Politologe Wu wurde von der Tsinghua-Universität entlassen, nachdem er zu den Massenprotesten in Hongkong im Jahr 2014 geforscht hatte. Seit dem vergangenen Jahr stünden regelmäßig Polizisten vor seinem Haus in Peking, sagt er.

Taten unterliegen der Zensur

Noch vor etwa zehn Jahren konnten Medien über Vorfälle im Land meist umgehend berichten. Bei den jüngsten Gewalttaten aber reagierten die Behörden mit weitreichender Zensur. Nach der Amokfahrt in der Stadt Zhuhai wurden jegliche Videos oder Augenzeugenberichte, die im Internet auftauchten, sofort gelöscht. Die Zahl der Verletzten bei dem Angriff in Hunan wurde erst bekanntgegeben, als es fast einen Monat später ein Gerichtsurteil gab. Weil es kaum öffentliche Daten und Berichte gibt, ist es auch schwer einzuschätzen, wie häufig es insgesamt zu derartigen Vorfällen kommt.

“Zwischen 2000 und 2010 gab es viele Diskussionen, auch darüber, wie wir diesen Menschen helfen könnten, wenn durch strukturelle Veränderungen die Risiken verringert würden. Aber jetzt gibt es das nicht”, sagt Rose Luqiu, die eine prominente Journalistin des staatlichen chinesischen Senders Phoenix Television war und an der Hong Kong Baptist University lehrt. Sie gehe davon aus, dass die Behörden versuchten, durch verstärkte Zensur Nachahmer zu verhindern. “Es wird immer strenger werden”, sagt sie. Aus Sicht des Staates sei dies die einzige Lösung.

Nach dem Angriff in Zhuhai wies Xi die lokalen Regierungen laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua an, “die Prävention und Kontrolle von Risiken an der Quelle zu erhöhen, extreme Fälle zu verhindern sowie Konflikte und Dispute rechtzeitig zu lösen”. Die Nachrichtenagentur AP fand mehr als ein Dutzend Mitteilungen von verschiedenen Städten, in denen daraufhin Maßnahmen verkündet wurden.

“Versteckte Risiken aufspüren”

In der östlichen Provinz Anhui besuchte ein regionaler Funktionär der Kommunistischen Partei eine Schule, eine Polizeiwache und eine Chemiefabrik, in der er Arbeiter ermahnte, “versteckte Risiken aufzuspüren”. Er sagte, sie müssten Streitigkeiten, auch solche innerhalb von Familien, Ehen und unter Nachbarn, “gründlich und gewissenhaft untersuchen und lösen”. Ähnliche Statements wurden von der Polizei und Staatsanwaltschaften veröffentlicht. Das Justizministerium kündigte an, durch genauere Betrachtung von Streitigkeiten um Erbschaften, Wohnraum, Land und nicht ausbezahlte Löhne Konflikte einzudämmen.

Die Frage ist allerdings, auf welche Art die Behörden Informationen über derartige Streitfälle sammeln wollen. “Ich denke, wir stehen da am Beginn eines Teufelskreises”, sagt Lynette Ong, China-Expertin an der Universität Toronto. Wenn solche Konflikte im Keim erstickt werden sollten, dann sei davon auszugehen, dass das System großen Druck ausüben werde – etwa auf Schulen, Unternehmen und Fabriken.

Die aktuellen Mitteilungen sind laut Ong zum Teil mit den strengen Vorgaben in China während der Corona-Pandemie vergleichbar. Damals hätten die lokalen Behörden das Leben der Menschen so massiv eingeschränkt, dass es am Ende zu Protesten gekommen sei. Die Einführung von unsinnigen Maßnahmen werde “Widerstand und Wut und Beschwerden” zur Folge haben, sagt sie. “Und das wird den Teufelskreis verstärken, weil dann noch weitere extreme Maßnahmen verhängt werden.”

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