Experte Siegert im Interview: “Russland behandelt den gesamten Westen als Kriegsgegner” | ABC-Z
Putin bleibt bei seinem Kriegsziel, die Ukraine zu unterwerfen. Die eigene Bevölkerung leidet spürbar. Warum gibt es dennoch kaum Protest gegen den immer teureren Krieg? Russland-Experte Siegert erklärt ntv.de, warum man nicht auf Widerstand der Russen setzen sollte.
ntv.de: Herr Siegert, viele Entscheidungen, die mit Blick auf den Ukraine-Krieg von den westlichen Unterstützern getroffen werden, haben zum Ziel, selbst nicht zur Kriegspartei zu werden. Gelingt das?
Jens Siegert: Was Bundeskanzler Olaf Scholz und andere westliche Regierungen übersehen: Russland behandelt den gesamten Westen als Kriegsgegner. Das ist auch kein Geheimnis, sondern Teil der Erzählung, mit der Putin seine Invasion zuhause in Russland rechtfertigt. Putins Narrativ folgend verteidigt sich Russland gegen den Westen, der es vernichten will. Ich benutze ganz ausdrücklich dieses Wort “vernichten”, weil es Putin auch benutzt. Der erneute Überfall auf die Ukraine 2022, nach der Krim-Annexion und den Kämpfen im Donbass, ist laut Putin eine Präventivmaßnahme. Das musste sein, um einen bevorstehenden Angriff des Westens – und Achtung: des Westens, nicht “nur” der Ukraine – abzuwehren.
Hätte Putin nicht gehandelt, wäre die Existenz Russlands in Gefahr gewesen – so in etwa stellt es der Kreml dar?
Genau so, damit macht Putin den Ukraine-Krieg zu einem existenziellen Krieg für Russland, das vom Westen bedroht wird. Aus russischer Sicht ist der Westen Kriegspartei, schon die ganze Zeit. Was man trotzdem tun kann: Man kann sagen, wir wollen es nicht zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Moskau kommen lassen. Das ist ein legitimes Bestreben. Aber zu sagen, wir wollen nicht Kriegspartei werden, das verkennt die Realität.
Heißt das, diejenigen Russinnen und Russen, die hinter diesem Krieg stehen, unterstützen ihn auch eher aus einem Bedrohungsgefühl heraus und weniger aus Eroberungswillen?
Mit Umfragewerten in einer Autokratie zu hantieren, ist schwierig. Aber im Levada-Zentrum, das regelmäßig Umfragen veröffentlicht, arbeiten die Soziologinnen und Soziologen recht professionell. Viel mehr Quellen, auf die man sich beziehen könnte, gibt es nicht. Bei Levada sind die Werte recht stabil und man kann, denke ich, schon seriös sagen, dass etwa 20 Prozent der Menschen in Russland ideologisch hinter diesem Krieg stehen. Jeder Fünfte also findet, Russland müsse wieder eine Großmacht werden und sich gegen den Westen wehren.
Aus einem Bedrohungsgefühl heraus?
Nein. Die haben diese Überzeugung grundsätzlich, das ist ihre geopolitische Analyse. Etwa 20 Prozent also sind für den Krieg, eine etwa ebenso große Zahl sind gegen den Krieg, und die große Masse dazwischen – rund 60 Prozent – ist unentschieden. Bei diesen 60 Prozent wirkt Putins Erzählung von der gefährdeten Heimat.
Dazu liefert der Kreml ja immer wieder auch das Narrativ vom feindlichen Nazi-Regime in der Ukraine. Wie wird das aufgenommen?
Das hat bei weitem nicht die Wirkung wie der Westen als vermeintlicher Russland-Bedroher. Diese Sicht begegnet mir auch in Gesprächen sehr häufig. Es werden Dinge kritisch gesehen und dann wird gesagt, “aber das ist mein Land. Wir sind im Krieg, und im Krieg bin ich nicht gegen mein Land”. Eine weitere Auffassung kommt hinzu: Im überwiegenden russischen Verständnis zählen zwischen Staaten im Grunde nur militärische Kräfteverhältnisse. Sonst nichts.
Kein Völkerrecht? Kein Regelwerk, auf das man sich im Rahmen der Vereinten Nationen mal geeinigt hat?
Nichts. Es gibt kein internationales Recht, kein Völkerrecht, kein Regelwerk, sondern: Der Stärkere nimmt sich, was er will. Diese Sichtweise geht einher mit der Überzeugung vieler Russen, dass es auch in Russland kein Recht gibt. Auch in der Gesellschaft nicht. Alle Fragen von Recht, Gerechtigkeit, von Gerichten – das empfinden viele als Camouflage, als Tarnung der eigentlichen Verhältnisse. Und die bedeuten: Die Schwächeren ordnen sich den Stärkeren unter, sie gruppieren sich um die Mächtigen herum. Diese Denkweise wird auf die internationale Lage übertragen, und dort gehört Russland entsprechend zu den Großmächten, den eigenständigen, souveränen Akteuren, wie Putin das nennt. In dieser Denke können kleinere Staaten per se nicht souverän sein, sondern müssen sich an diese Schutzmächte anhängen. So kommt die Erzählung von Einflussräumen zustande, von Pufferzonen der Schutzmächte, wie die Ukraine eine für Russland sein soll. Und dazu kommt noch das Narrativ, dass die Ukraine eigentlich ein Teil Russlands sei.
Wird das in der breiten Bevölkerung so empfunden?
Ich ziehe mal einen Vergleich, um das zu verdeutlichen: In Deutschland schimpft man außerhalb Bayerns häufig über die Bayern. Aber niemand würde sagen, Bayern ist kein Teil Deutschlands. Etwa so empfinden viele Menschen in Russland die Ukraine. Als eine Art Bayern von Russland. Aus dieser Sicht wird der ukrainische Wille, einen eigenen Staat zu haben, schnell auf eine kleine Elite in der Ukraine projiziert, die aber eigentlich nicht den Volkswillen darstelle.
Spielt die russische Sprache da eine große Rolle? Sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach früher auch Russisch.
Selenskyjs Muttersprache ist Russisch. Ukrainisch hat er als Zweitsprache gelernt. Und natürlich spielt die Sprache eine Rolle. Kultur spielt eine Rolle, aber auch 300 Jahre in einem gemeinsamen Staat. In Russland versteht man nicht, dass viele Ukrainer diesen Staat gar nicht als den ihren empfunden haben. Im Gegensatz zu Russland. Als 2004 und 2005 in der Ukraine die sogenannte Orangene Revolution ihren Lauf nahm, habe ich sehr viel mit Freundinnen und Freunden in Russland über die Ukraine als eigenen Staat diskutiert – mit Oppositionellen, NGO-Leuten, Menschenrechtlern. “Hand auf’s Herz”, habe ich damals gefragt: “Nicht vom Kopf her, sondern aus dem Gefühl heraus betrachtet: Ist für euch die Ukraine Ausland?” Die meisten selbst dieser Leute haben gesagt: “Ganz ehrlich? Nicht wirklich.”
Das waren also Leute, die den Krieg verurteilen würden?
Die stehen heute fest an der Seite der Ukraine. Für sie ist dieser Krieg ein Verbrechen und Putin gehört als Kriegsverbrecher bestraft. Aber, wenn ich das mal so sagen darf, “im Herzen” fühlte es sich für diese Leute komisch an, dass die Ukraine ab 1991 plötzlich ein eigenständiger Staat war und noch immer ist. Sie können sich vorstellen, wie sich das erst für die große Masse der russischen Bevölkerung anfühlt, die sich über Demokratie und Menschenrechte nicht so viele Gedanken macht?
Nochmal kurz zum Faktor Sprache: Wenn man daran festmacht, wo in der Welt überall russische “Landsleute” leben, kommt ja viel zusammen.
Dieses Konzept ist knifflig. Es gibt tatsächlich diesen Begriff Sootetschestwennik, der sich korrekt mit dem Begriff “Vaterländler” übersetzen lässt. Das sind die Menschen, die zum Vaterland gehören, und das machen die meisten Russen an der Sprache fest. Der Hintergrund dafür ist historisch: Es hat nie einen russischen Nationalstaat gegeben.
Sie meinen, so einen “Rumpfstaat”, wie er jetzt existiert? Ohne weitere Gebiete?
Ja. Vom späten Mittelalter an hat sich das Großfürstentum Moskau ausgedehnt, und zwar in riesige Weiten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das alles zur Sowjetunion und war letztlich so groß, dass dort die ethnischen Russen sogar in der Minderheit waren. Als 1991 die anderen Länder die Sowjetunion verließen, war dieses Russland, das allein übrigblieb, erstmal etwas Künstliches. Und 20 bis 25 Millionen Menschen, die sich als Russinnen und Russen betrachtet aber in anderen Teilen der Sowjetunion gelebt hatten, fanden sich plötzlich außerhalb dieses neuen russischen Staates wieder. Viele Menschen in Russland sagen darum: “Wo diese Landsleute sind, ist ja eigentlich auch Russland. Das sollte eigentlich auch zu uns gehören.”
Gibt es dazu auch eine Gegenposition in Russland?
Das Gegenargument, das ich teile, ist: Diese 20 bis 25 Millionen Leute waren Kolonialisten. Sie sind aus dem russischen Kernstaat ausgezogen in andere Länder, etwa in die baltischen Staaten oder nach Zentralasien, und haben dort gesiedelt. Damit lässt sich kein Anspruch begründen, dass diese Länder zu Russland gehören. Aber viele betrachten das anders. Und die Grundlage dafür ist, dass es vor 1991 nie einen in der Form reduzierten russischen Staat gegeben hat. Nie zuvor gab es Russland in den heutigen Grenzen, die völkerrechtlich anerkannt sind. Die sind für viele Menschen in Russland sozusagen ungewohnt. Ein solches Empfinden ist gar nicht so ungewöhnlich, wenn Sie sich die europäische Geschichte vor allem nach den beiden Weltkriegen anschauen.
Stichwort Oder-Neiße-Grenze?
Wie lange hat es gedauert, bis Deutschland die Oder-Neiße-Grenze als endgültige Grenze anerkannt hat? Bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag.
1990 unterzeichnet.
Ich kann Ihnen versichern: Es gibt immer noch viele Leute in Deutschland, die das falsch finden. Oder schauen wir auf Ungarn: Eine Basis für die Macht von Viktor Orban in Ungarn ist der groß-ungarische Anspruch, den er immer wieder formuliert. Er macht das vorsichtiger als Russland, aber viele Ungarn sind der Meinung, dass ein Teil der Slowakei, Rumäniens und übrigens auch der Ukraine zu Ungarn gehört. Ich zähle das nicht auf, um die russische Sichtweise zu rechtfertigen. Es zeigt aber, dass solche gefühlten Ansprüche nicht eine speziell russische Eigenschaft sind. Sie gehören zur europäischen Geschichte.
Mit Jens Siegert sprach Frauke Niemeyer