Europawahl 2024 im Landkreis Erding: Erschrecken und Ratlosigkeit – Erding | ABC-Z
Zwei Aspekte beherrschen am Tag nach der Europawahl die Diskussion der Ergebnisse: die Zugewinne der AfD und das Wahlverhalten der jungen Wählerinnen und Wähler. Ulrike Scharf (CSU) ist als bayerische Sozialministerin auch für Jugendpolitik zuständig. Sie schickt am Montagvormittag eine Pressemitteilung unter dem Titel „Wahlverhalten vieler junger Menschen besorgt mich!“ raus. „Dass radikale Kräfte bei den 16 bis 24 Jahre alten Wählerinnen und Wählern überdurchschnittlich gut abgeschnitten haben“, wertete die stellvertretende Ministerpräsidentin als „deutliches Warnsignal – wir müssen junge Menschen noch beherzter von unserer Demokratie überzeugen“. Und sie verweist darauf, dass ihr Ministerium dem Bayerischen Jugendring „2,5 Millionen Euro für innovative Projekte und Veranstaltungen zur Demokratiebildung“ zur Verfügung stellt.
Auch Benedikt Klingbeil, 19 Jahre alt und stellvertretender Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Erding, bedrückt das Wahlergebnis der AfD – auch wegen der „erschreckend vielen jungen Menschen“, die dieser Partei ihre Stimmen gegeben haben. „Es ist wirklich katastrophal, dass Menschen offensichtlich das Vertrauen in die etablierten Parteien so massiv verlieren“, sagt Klingbeil am Montag. Er habe im Wahlkampf oft den Satz gehört: „Ihr macht es so schlecht, ich weiß nicht, was ich sonst wählen soll.“ Dieser Satz zeige aber auch, dass die Stimmabgabe für die AfD nicht ausschließlich aufgrund von EU- oder Ausländerfeindlichkeit erfolgt sei, sondern dass es sich um eine Protestwahl handle. Und bei Protestwählern sei es möglich, „sie wieder zurück ins demokratische Spektrum zu holen“, ist Klingbeil überzeugt. Zudem seien viele Stimmen der jungen Wähler an „Kleinstparteien der Mitte“ gegangen, „ein legitimer Ausdruck des Protests“.
Lisa Schießer, Co-Vorsitzende des Grünen-Ortsverbands Erding, nennt das Ergebnis für ihre Partei „sehr schockierend und enttäuschend, aber nicht überraschend“. Dass die AfD so viele Stimmen erreicht habe, „da müssen wir uns definitiv Gedanken machen“ – und: „bessere Politik machen“, sagt die 30-Jährige. Dass gerade viele junge Menschen und Erstwähler ihre Stimme der AfD gegeben haben, liegt ihrer Ansicht zum einen an der „massiv guten Kampagne der AfD auf Tiktok“. Zum anderen sehe sie, dass junge Wähler und Wählerinnen frustriert seien von der Politik der Ampel. Unter anderem hätten die Grünen den Klimaschutz nicht konsequent genug gegenüber den Koalitionspartnern durchgezogen, räumt die 30-Jährige ein. „Aber wir lassen uns nicht unterkriegen“, betont Schießer. „Wir bleiben am Ball.“
Die AfD hat überall im Landkreis mehr Stimmen als zuletzt bekommen. Am stärksten ist sie im Holzland. In Kirchberg haben 21,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler die Rechtsaußen-Partei angekreuzt, in Hohenpolding waren es 18,5 Prozent. Auch weiter westlich, in der Einflugschneise zum Flughafen, hat die AfD viel Zuspruch erhalten. In Berglern holte sie 17,3 Prozent und in Eitting 16,8 Prozent.
Je ländlicher die Gegend, desto schwerer haben es die Ampel-Parteien
Je ländlicher die Gegend, desto schwerer ist das Terrain für die Ampel-Parteien. Sehr deutlich wird das in der Holzlandgemeinde Steinkirchen. Dort kommen SPD, Grüne und FDP, addiert man ihre Ergebnisse, zusammen auf gerade mal 10,0 Prozent der Stimmen. Geht man weiter in die Tiefe, finden sich noch extremere Ergebnisse. Im Wahllokal Schönbrunn-Gatterberge in der Gemeinde Sankt Wolfgang weist die SPD ein Ergebnis von 0,7 Prozent aus – es gab hier genau eine einzige Stimme für Deutschlands älteste Partei.
Der Erdinger Oberbürgermeister Max Gotz (CSU) sieht in dem Stimmenzuwachs für die AfD ein „Wachrütteln“, das allen gelten sollte, auch und gerade den Jugendgruppen der etablierten Parteien. Es zeige sich, dass die Jugend sehr wohl Interesse an Politik habe, nur offensichtlich fühle sie sich anderswo besser aufgehoben. Das müsse für alle, für die Grünen genauso wie für die Junge Union, heißen, „dass sie sich breiter aufstellen müssen“. Er vermisse zum Beispiel bisher das Interesse, sich um Auszubildende zu kümmern. Grundsätzlich, so Gotz, sollten die Wähler der AfD aber nicht pauschal kriminalisiert werden, sondern vielmehr inhaltlich gestellt werden „mit passenden und sachlichen Argumenten“. Zugleich fühle sich die Kommunalpolitik zunehmend ohnmächtig, zum Beispiel beim Thema Migration. Hier müssten Bund und EU Initiativen ergreifen.
Die SPD im Landkreis Erding ist schon länger Kummer gewohnt
Die SPD im Landkreis ist schon lange Kummer gewohnt. Selbst bei schlechten Ergebnissen behält Ulla Dieckmann, die SPD-Fraktionsvorsitzende im Kreistag, ihre Zuversicht. Auch wenn offensichtlich „bei vielen Bürgern das Vertrauen in die SPD nicht mehr richtig da ist“, glaubt sie daran, dass wieder bessere Zeiten kommen. Die sind ja noch gar nicht so lange her. „Wer hätte denn 2021 geglaubt, dass Olaf Scholz Bundeskanzler werden würde?“, fragt Dieckmann, „das zeigt uns, dass man die SPD nicht unterschätzen muss“.
„Das gute Abschneiden der AfD hat mich echt erschreckt“, sagt Erdings Zweite Bürgermeisterin Petra Bauernfeind (Freie Wähler). Dass gerade auch viele Erstwähler AfD gewählt haben, das könne sie sich auch nicht erklären. Ihr sei jedoch gesagt worden, dass an den Infoständen der AfD viele junge Menschen gesehen worden seien. Sie habe kürzlich einen Artikel über Erstwähler gelesen, in dem stand, dass wohl hauptsächlich junge Männer AfD wählten, während junge Frauen eher zu Grün tendierten. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern habe sie schon verwundert. Sie selbst ist jedenfalls sehr froh, dass ihr Sohn, ein Erstwähler und in der SPD engagiert, „ganz sicher nicht AfD gewählt hat“.
Insgesamt macht sie das gute Abschneiden der AfD ein wenig ratlos
Insgesamt mache sie das gute Abschneiden der AfD „ein Stück weit ratlos“. Wichtig sei, „dass wir alle miteinander zu einem anderen Umgangston finden und gemeinsam nach an Lösungen suchen, statt uns am politischen Gegner abzuarbeiten“.
Rainer Mehringer, weiterer stellvertretender Landrat und seit Jahren einer der lokalen Freien-Wähler-Granden, betont zwar geflissentlich, dass seine Partei im Vergleich zur Europawahl 2019 zugelegt habe. Er gesteht aber auch ein, dass er sich mehr erwartet hätte. Er fordert mehr Engagement. „Wir müssen noch mehr mit der Bevölkerung in den Dialog kommen.“ Vor allem müsse man über das „Megathema Migration“ reden. Dabei hat er schon die nächsten Wahlen im Auge. Die Bundestagswahl im Herbst 2025 und die Kommunalwahlen im Frühjahr 2026. Man müsse sich enorm anstrengen, sagt Mehringer, damit sich der Zuspruch für die AfD nicht dauerhaft verfestige.