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Kessler-Zwillinge: Auch Italien trauert | FAZ | ABC-Z

Italiens Medien haben den Kessler-Zwillingen noch einmal die ganz große Ehre erwiesen. Alle großen Zeitungen berichteten auf der Titelseite und mit Fotos der Schwestern über deren Tod. Dazu eine Flut von Kommentaren, Interviews mit Weggefährten, Würdigungen – obwohl die Zwillinge, die ausgezeichnet Italienisch sprachen, auch dort schon lange nicht mehr aufgetreten sind.

Doch wurden „Le gemelle Kessler“ weiterhin geliebt; besonders die Boomer-Generation schwelgte tagelang und kollektiv in Erinnerungen, auch auf Facebook: Die gemeinsamen Treffen vor dem einzigen Fernseher der Nachbarschaft; das Ballett, diese langen Beine, die exotischen Straußenfedern um die Hüften und das Gefühl, ein bisschen „Moulin Rouge“ im bigotten Italien zu erleben. Dann der eigene erste Minirock oder das Bekenntnis, im späteren Leben alle deutschen Frauen insgeheim mit der Schönheit der Kessler-Zwillinge abgeglichen zu haben.

„Ihre in keusche schwarze Strumpfhosen gehüllten Beine bewegten sich in perfekter Synchronität, sodass mein Großvater, als sie zum ersten Mal im italienischen Fernsehen auftraten, dachte, er sähe doppelt oder die Antenne sei kaputt“, schrieb Massimo Gramellini im „Corriere della Sera“. Die Kessler-Zwillinge seien nicht nur ein „Symbol für elegante Erotik und Anmut“ gewesen, so Aldo Cazzullo, sondern auch die Erinnerung an das lebensfrohe Italien des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders sowie „das Symbol der Versöhnung mit Deutschland“. Berühmt bleibt ein Witz von Alberto Sordi von 1966. Der Schauspieler fragte die Zwillinge, ob sie nicht mit einem gewissen Offizier Fritz von Kessler verwandt seien, er habe 1943 sein Fahrrad beschlagnahmt.

Furcht vor allem, was nicht zur traditionellen Familie passte

Ihr Fernsehdebüt in Italien gaben sie Anfang 1961 in der Varieté-Show „Giardino d’inverno“ und waren danach regelmäßig in der RAI zu sehen. Die RAI war damals Italiens einziger Fernsehsender. Entsprechend groß war ihr Einfluss auf Geschmack und Sichtweisen. Alice und Ellen Kessler waren die ersten Frauen, die ihre Beine bis zur Hüfte zeigten – verborgen durch schwarze Wollstrumpfhosen wohlgemerkt (durchsichtige Nylons durften sie erst zwei Jahre später tragen), trotzdem war dieser Auftritt der Beginn einer gesellschaftlichen Revolution. Italiens Männerwelt träumte damals von nordisch aussehenden Frauen; groß, blond und freizügig (siehe „Il diavolo“ mit Alberto Sordi von 1963).

„Als die Kessler-Schwestern mit ihren langen, kraftvollen Beinen auftauchten, war es, als versetze man diesem Traum von Freizügigkeit einen Tritt. Sie verkörperten ein sehr züchtiges Crazy Horse, in einer häuslichen und christdemokratischen Version, familienfreundlich, nicht subversiv“, so die Zeitung „La Repubblica“. Die Kessler-Zwillinge seien in Italien, wo man Furcht vor allem hatte, was nicht zur traditionellen Familie passte, wie die Aussicht auf eine Moderne gewesen, die das Kino schon einlöste, die aber sonst noch nicht stattfand. Die beiden Frauen hätten ein protofeministisches Fernsehen verkörpert, fröhlich und voller Ironie, das in die Häuser der Italienerinnen eindrang und eine Möglichkeit aufzeigte: nämlich die, Herrin über sich selbst zu sein.

„Die Reform des Familienrechts, die Referenden über Scheidung und Abtreibung, kurz gesagt, die Errungenschaften des folgenden Jahrzehnts, wurden auch von diesen außergewöhnlichen Frauen vorbereitet.“ In der Kantine der RAI in Rom traf Ellen Kessler auf den Schauspieler Umberto Orsini. Sie war danach zwanzig Jahre lang mit ihm liiert. Ihre Beziehung mündete nie in eine Heirat, genauso wenig die Liaison ihrer Schwester mit Schauspieler Enrico Maria Salerno. Als die beiden in den Siebzigerjahren für den „Playboy“ posierten, war das Magazin in Italien nach wenigen Stunden ausverkauft.

Von den Italienern hätten sich Alice und Ellen Kessler am meisten verstanden gefühlt, war in einer italienischen Zeitung zu lesen. Ob das stimmt? Der „Corriere della Sera“ veröffentlichte nochmals das Interview, in dem die Schwestern 2024 sagten, gemeinsam sterben zu wollen. In Italien hätten sie aufgrund der Gesetzeslage diesen Weg nicht so gehen können, wie sie es am Ende taten. Abermals hätten die Kessler-Zwillinge gezeigt, wie die Welt sich andernorts verändert habe, lautete zuletzt der Tenor in Italien. Die Sterbehilfe-Debatte ist dort nun wieder im Gang.

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