Europa bald ohne US-Atomschirm?: Wenn Putin sich nicht mehr abschrecken lässt | ABC-Z

Während Russlands Präsident Wladimir Putin mal wieder vorm Dritten Weltkrieg warnt, droht sein US-Amtskollege Donald Trump, die Europäer militärisch fallen zu lassen. Frankreich erwägt deshalb, seinen nuklearen Schutzschirm über Europa zu spannen. Doch das wäre knifflig: Atomare Abschreckung funktioniert nach ihren ganz eigenen Regeln. Aber wie? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum gibt es gegen Atomwaffen keine Verteidigung?
Eine Atomwaffe setzt mittels Kernspaltung oder Kernfusion aus wenig Masse enorm viel Energie frei, entfacht dadurch Sprengkraft im Bereich von Megatonnen. Diese Kraft ist nicht automatisch maximal hoch, sondern kann gesteuert werden. Ein „schwacher“ Atomsprengkopf entfacht vielleicht die zehn bis hundertfache Sprengkraft der stärksten konventionellen Sprengladung. Nach oben ist die Skala offen.
Das heißt: Theoretisch kann eine starke atomare Sprengladung ausreichen, um zum Beispiel eine Großstadt zu zerstören. Diese Metropole wird womöglich mit einem Fliegerabwehrschirm gegen Angriffe aus der Luft geschützt. Doch wenn genug Raketen gleichzeitig angreifen, wird dieses Abwehrsystem übersättigt und macht Fehler. Schickt die feindliche Armee also 20 oder noch mehr Atomwaffen gleichzeitig los, und lässt die überforderte Flugabwehr der Stadt auch nur eine einzige Rakete durch, dann ist die Stadt zerstört.
„The one bomber that gets through“ – ein einziger Bomber reicht, das war in den 1940er Jahren, als Forscher um Robert Oppenheimer die Atombombe entwickelten, eine maßgebliche Erkenntnis. „Alles, was man bis dahin militärisch über Angriff und Verteidigung gewusst hatte, wurde durch den Eintritt in die nukleare Ära im Grunde obsolet“, sagt der Sicherheitsexperte Frank Sauer. Gegen die Atomwaffe gab es keine effektive Verteidigung.
Die Wissenschaft erkannte damals, dass sie im Militärischen ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte. Ab jenem Zeitpunkt unterteilte man alle Waffengattungen in zwei Kategorien, nuklear und konventionell. Eine daraus folgende Erkenntnis: Der Atomsprengkopf ist eine „politische Waffe“, man kann mit dieser Waffe eigentlich nur drohen, aber sie nicht wirklich einsetzen. Denn die großen Atommächte waren und sind fähig zum „Zweitschlag“. Das heißt, wer immer mit der Atomwaffe angreift und zum Beispiel die gegnerische Hauptstadt auslöscht, muss damit rechnen, dass durch die Reaktion des Gegners auch die eigene Nation zerstört wird.
Neben den Atomwaffen, deren Ziel es war, den Gegner auszulöschen, wurden jedoch im Laufe der Zeit auch solche mit geringerer Zerstörungskraft entwickelt. Sie wären auch auf einem Gefechtsfeld einsetzbar – mit drastischen Schäden für Soldaten und Umwelt. Man spricht hier von Gefechtsfeldwaffen oder vom taktischen Einsatz einer Atomwaffe.
Was ist der Unterschied zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen?
Falls es jemals dazu kommen sollte, dass ein konventioneller Krieg in einen nuklearen Konflikt übergeht, kämen höchstwahrscheinlich zunächst solche taktischen Atomwaffen zum Einsatz, keine strategischen. Bereits im Kalten Krieg wurde zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen unterschieden. Taktische Nuklearwaffen waren jene, die auf möglichen Kriegsschauplätzen, auch in Europa, mit unterschiedlicher Sprengkraft zum Einsatz gekommen wären – ohne dass sie zwangsläufig einen weltweiten atomaren Schlagabtausch, auch zwischen den USA oder der Sowjetunion, zur Folge gehabt hätten. Strategische Atomwaffen waren hingegen jene, mit denen sich die USA und die UdSSR gegenseitig und direkt mit immenser Sprengkraft hätten beschießen können.
„Die taktischen Atomwaffen sind für den Einsatz in einem Kampfgebiet konzipiert. Strategische Atomwaffen dienen hingegen vor allem der Abschreckung eines gegnerischen Angriffs auf das eigene Land, denn sie haben eine viel größere Zerstörungskraft“, sagt Liviu Horovitz, Experte für nukleare Abschreckung bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Hinter Abschreckung durch strategische Nuklearwaffen steckt der Gedanke: Der Gegner wird keine Nuklearmacht direkt angreifen, die mit ihrem Arsenal im Gegenzug die Entscheidungszentren des Gegners zerstören könnte.
Können Paris und London die nukleare Abschreckung der USA ersetzen?
Innerhalb der Nato kommt den USA die Rolle einer nuklearen Schutzmacht für Staaten wie Deutschland zu, die kein eigenes Atomwaffenarsenal besitzen. In Deutschland lagern jedoch amerikanische Atombomben. Die Entscheidung, wann sie zum Einsatz kommen, liegt in den Händen des amtierenden US-Präsidenten. Deutschland hat hier immerhin ein Vetorecht. Die exakte Anzahl der in Europa stationierten Atomwaffen hält die Nato geheim. Experten gehen jedoch davon aus, dass es sich um 100 Atombomben handelt, etwa 20 davon lagern auf dem deutschen Fliegerhorst Büchel. Weitere Sprengköpfe befinden sich in Kleine-Brogel in Belgien, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei. Allerdings bilden die in Europa positionierten Atomwaffen der Nato nur einen kleinen Teil des gesamten Arsenals der Atommächte. Nach Angaben der Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler besitzt Russland knapp 5580 nukleare Sprengköpfe, die USA 5044, Großbritannien 225 und Frankreich 290.
Angesichts der Drohungen von US-Präsident Donald Trump plant CDU-Chef Friedrich Merz Gespräche mit Frankreich und Großbritannien über einen atomaren Schutz Europas abseits der USA und der Nato. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will mit europäischen Verbündeten über den Vorschlag beraten, zum Schutz vor Russland den französischen Nuklearschirm über den gesamten Kontinent aufzuspannen. Russland sei eine „Bedrohung für Frankreich und Europa“, erklärte Macron in einer Fernsehansprache an die Nation. Daher habe er „die strategische Debatte über den Schutz unserer Verbündeten auf dem europäischen Kontinent durch unsere (nukleare) Abschreckung eröffnet“.
Allerdings können London und Paris bislang bei Weitem nicht den gleichen Schutzschirm bieten wie die USA. Um ihr Arsenal entsprechend auszubauen, bräuchten sie viel Zeit und Geld. Erstens verfügen sie insgesamt über wesentlich weniger Atomsprengköpfe. Zweitens hinken sie Washington hinterher bei der konventionellen Kriegsführung; sie haben weniger Truppen, Rüstungsgüter und technisches Know-how. Die konventionellen Ressourcen bilden jedoch eine Art Unterbau für eine glaubhafte nukleare Abschreckung. Drittens verfügen London und Paris kaum über taktische Kernwaffen und haben damit kein „breit gefächertes Arsenal, das verschiedene Eskalationsstufen umfasst“, so Horovitz. Frankreich habe noch eine gewisse Managementmöglichkeit bei einer solchen Eskalation, mit verschiedenen Zwischenstufen. Aber die stehe in keinem Vergleich zu den Fähigkeiten der USA. Paris könnte lediglich mit konventionellen Marschflugkörpern auf Flugzeugen ein letztes Warnzeichen an Russland schicken, sagt Horovitz. Braucht es mehr, bliebe nur noch die ganz große Atomkeule.
Hätte die nukleare Abschreckung durch Frankreich Vorteile für Deutschland?
Deutschland könnte mit eigenen Atombomben glaubhaft abschrecken. Deutsche Nuklearwaffen sind jedoch verboten – aufgrund verschiedener internationaler Verträge, die Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet hat. Realistisch ist also nur die Chance auf eine erweiterte Abschreckung durch andere. „Die zentrale Frage bei nuklearer Abschreckung, die nicht dem Selbstschutz desjenigen dient, der über Nuklearwaffen verfügt, lautet: Wie glaubwürdig ist das Schutzversprechen? Sowohl für die eigenen Verbündeten als auch für den möglichen Gegner, also für denjenigen, der abgeschreckt werden soll?“, sagt Eckhard Lübkemeier, der für die Stiftung Wissenschaft und Politik zu den Krisen der EU forscht.
Die geografische Nähe, die diplomatischen Beziehungen und die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit sprechen dafür, dass Frankreich ein glaubhaftes Schutzversprechen für Deutschland abgeben könnte. Möglich wäre etwa, französische statt amerikanischer Kernwaffen in Deutschland zu stationieren. Für diesen Fall will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Entscheidung über einen möglichen Einsatz der Atombomben bislang nicht aus der Hand geben. Wer Macrons Amtsnachfolger wird, entscheidet sich bei den Präsidentschaftswahlen 2027; er selbst darf nicht mehr antreten. Falls die Rechtspopulistin Marine Le Pen Präsidentin wird, steht es schlecht um einen französischen Schutzschirm für die europäischen Nachbarn. Le Pen behauptet, jegliche Beistandsversprechen Macrons gegenüber den Europäern – auch abseits der nuklearen Abschreckung – seien ein Verrat an Frankreich.
Abschreckung funktioniert – das ist gut und schlecht zugleich
Atomwaffen sind in der Welt – man wird sie nicht ohne Weiteres wieder los. International herrschte aber bislang der Wille vor, niemals einen atomaren Erstschlag auszuführen, sondern sich nur gegen einen solchen zu wehren. Wenn Du als erstes schießt, bist Du als zweites tot – diese Drohgebärde ist das Wesen der nuklearen Abschreckungsidee.
Um mit dieser Drohung zu überzeugen, muss jedoch gewährleistet sein, dass die Atommacht ihre Fähigkeiten so aufgestellt und positioniert hat, dass sie selbst nach einem Zerstörungsschlag des Gegners noch einsatzfähig wären. Großbritannien und Frankreich nutzen beide Atom-U-Boote. Und so funktioniert die „Drohgebärde“: Selbst, wenn der Gegner in einem Erstschlag jeweils das gesamte Land auslöschen sollte, wäre man von den U-Booten aus noch zweitschlagfähig. Den Gegner würde dasselbe Schicksal ereilen, die Auslöschung der Nation.
So absurd diese Wenn-Dann-Szenarien klingen: Seit fast 80 Jahren wurden weltweit keine Nuklearwaffen eingesetzt. Allerdings ist das nur der Befund. Wie sehr gegenseitige Abschreckung dazu tatsächlich beigetragen hat, ist wissenschaftlich umstritten.
Was jedoch in den vergangenen drei Jahren deutlich wurde: Das Schreckenspotential lässt sich auch anders nutzen. Russlands Machthaber Wladimir Putin droht nicht mehr mit dem Zweitschlag, sondern mit dem Erstschlag. Mit dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine vor drei Jahren begann ebenso ein ständiges „Spiel mit dem Feuer“ vonseiten Moskaus. „Wer auch immer versucht, uns zu behindern und vor allem, Bedrohungen für unser Land, für unser Volk zu kreieren, sollte wissen, dass dies sofort nie dagewesene Konsequenzen nach sich ziehen wird“, sagte Putin in der Nacht, bevor die Panzer am 24. Februar die Grenze überrollten.
In der Folge sprach der Kreml immer wieder Drohungen aus. Sprecher Dmitri Peskow erklärte zwar bei anderer Gelegenheit, niemand „denke an den Einsatz, nicht mal an die Idee, Atomwaffen einzusetzen“. Parallel zum Säbelrasseln führten die Russen aber schon eine Woche nach Kriegsbeginn eine Militärübung mit Atom-U-Booten in der Barentssee durch.
Der Kreml suggeriert also inzwischen, er könne Atomwaffen auch einsetzen, wenn er sich auf anderer Ebene bedroht sieht – durch zu massive Nato-Hilfe für die Ukraine etwa, durch eine zu prekäre Lage auf dem Schlachtfeld dort. Bundeskanzler Olaf Scholz scheint Russlands atomare Drohungen in sein Kalkül mit einzupreisen, wenn es um militärische Hilfe für die Ukraine geht. Das sprach der Kanzler wiederholt offen aus. Die Zurückhaltung des Westens – sie folgt nicht nur aus begrenzten militärischen Kapazitäten, sondern auch aus der Sorge vor atomarer Eskalation.
Andere Mächte der Welt können aus dieser Entwicklung zwei Schlüsse ziehen: Ohne Atomwaffen ist eine Nation schwach und angreifbar – wie die Ukraine, die Anfang der 1990er sämtliche Atomwaffen an Moskau übergab. Mit Atomwaffen bekommt die Position einer Nation ein ungleich stärkeres Gewicht, und zwar auch, ohne dass sie eingesetzt werden – wie im Fall Russlands. Zwei Erkenntnisse, die die Welt nicht sicherer machen werden.
Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob sich der Effekt einer nuklearen Drohung über die lange Strecke abnutzt. Und man wird sehen, ob andere Staaten, die bisher keine Atomwaffen haben, als Konsequenz aus dem Ukrainekrieg danach streben werden, selbst atomar aufzurüsten. Ein Land wie den Iran etwa davon zu überzeugen, seine nuklearen Fähigkeiten weiter nur zivil zu nutzen, wird in der Zukunft nicht einfacher, aber wichtiger.