EU-Generalstaatsanwältin: „Auch die klassische Mafia verlagert ihr Geschäft“ | ABC-Z

Frau Kövesi, vor gut sechs Jahren sind Sie zur ersten Europäischen Generalstaatsanwältin ernannt worden. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag?
Oh ja! Die Europäische Staatsanwaltschaft existierte damals nur auf dem Papier. Ich bin in ein Gebäude der EU-Kommission in Brüssel gegangen, wo mich eine Art kleiner Ausschuss begrüßte. Sie hatten ein Kernteam zusammengestellt: fünf Personen, die mich beim Aufbau der Staatsanwaltschaft unterstützen sollten. Und sagen wir mal: Der erste Tag war sehr interessant.
Es ging um das Budget. Ich habe gesagt: „Wir brauchen eine effiziente, unabhängige und starke Institution, die Büros in 22 Mitgliedstaaten haben wird. Nennen Sie mir das Budget und ich sage Ihnen, wie ich alles organisieren werde.“ Die Antwort war: „Das Budget beträgt acht Millionen Euro und Sie werden 32 ¼ Mitarbeiter haben.“ Ich sagte: „Ok, mein Englisch ist vielleicht nicht perfekt, aber was bedeutet 32 ¼? Sind Sie da sicher? Ich habe noch nie von einem Viertel Staatsanwalt gehört!“ Die Antwort: „Ja, Sie werden viele Teilzeitstaatsanwälte haben.“ Ich habe auf die Zahlen geschaut und gesagt: „Wissen Sie was: Das muss sich ändern!“
Wie konnten Sie die Kommission überzeugen?
Was mich überrascht hat, war das Unverständnis darüber, wie eine Staatsanwaltschaft arbeitet. In den Augen von manchen Beamten waren wir einfach eine weitere EU-Agentur. Aber wir sind eine unabhängige Institution, wir gehören zur Justiz. Ich erklärte, dass ich Generalstaatsanwältin in Rumänien war, und dass eine einzelne regionale Staatsanwaltschaft dort dieses Budget hat. Ich habe die Internetseite der rumänischen Nationalen Antikorruptionsbehörde geöffnet. Wir hatten dort mehr als 2000 Betrugsfälle mit EU-Geldern pro Jahr. Es war also unmöglich, dass es auf EU-Ebene in fünf Jahren 200 Fälle sein würden, wie die Kommission basierend auf ihren Statistiken annahm. Wir führten diese Diskussion, da sagte ein Beamter: „Frau Kövesi, Sie können doch nicht sagen, dass die Kommission Unrecht hat.“ Ich antwortete: „Ich sage nicht, dass die Kommission Unrecht hat. Ich sage nur, dass das Budget nicht ausreicht.“ Ich wusste, dass ich Recht hatte. Deshalb war mein erstes Dokument ein Brief an alle Justizminister der an der EUStA teilnehmenden Mitgliedstaaten, in dem ich um die entsprechenden Statistiken gebeten habe. Das war mein erster Arbeitstag.
Inzwischen liegt Ihr Budget bei gut 90 Millionen Euro. Ihr Hauptquartier hier in Luxemburg ist in einem beeindruckenden Turm untergebracht, dazu kommen Büros in 43 Städten. Trotzdem ist die EUStA noch immer recht unbekannt. Können Sie kurz erklären, was sie tut?
Wir schützen die finanziellen Interessen der EU. Ich weiß, dass diese Worte sehr technisch klingen, aber sie haben immer eine konkrete Bedeutung. Man findet sie in Gemeinden, in denen Krankenhäuser nie fertiggestellt wurden, weil die EU-Gelder dafür gestohlen wurden. In unfertigen Straßen, in Projekten, die nur auf dem Papier oder auf einer bunten Werbetafel existieren – nirgendwo vor Ort. Wenn wir uns umschauen, sehen wir die Auswirkungen dieser Kriminalität überall in unserem Alltag.
Und warum können Sie da besser ermitteln als Tausende Staatsanwälte in den EU-Mitgliedsländern?
Das Ausmaß des Betrugs wurde jahrelang unterschätzt. Alle dachten, dass die Finanzkriminalität eine Nische sei. Aber das ist nicht wahr. Sie ist der Kern der Kriminalität. Die EUStA nahm 2021 ihre Arbeit auf. Und seither haben wir einen neuen Kontinent des Verbrechens entdeckt. Darf ich Ihnen ein konkretes Beispiel für den Mehrwert unserer Staatsanwaltschaft nennen?
Nehmen wir an, ich bin Staatsanwältin hier in Luxemburg. Ich habe einen Fall, in dem es um grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrug geht. Ich ermittle gegen ein Unternehmen, das Verbindungen nach Deutschland, nach Italien und in die Niederlande hat. Als Staatsanwalt auf nationaler Ebene muss ich Anträge an die Kollegen aus diesen drei Ländern schreiben. Die schicke ich an eine zentrale Behörde zur Übersetzung. Die zentrale Behörde schickt sie weiter an die zentralen Behörden in den drei Ländern, und von da gehen die Anträge jeweils an einen Staatsanwalt. Ich werde nie erfahren, wer dieser Staatsanwalt ist. Ich werde nie erfahren, ob er Zeit hat, auf mein Ersuchen zu antworten. Wenn ich Glück habe, erhalte ich nach anderthalb oder zwei Jahren eine Antwort. Wenn ich aber der Delegierte Europäische Staatsanwalt in Luxemburg bin, rufe ich meine Kollegen in Deutschland, Italien und in den Niederlanden direkt an und sage: „Ich brauche diese Dokumente, ich brauche diese Beweise. Kannst du mir helfen?“ Danach drücke ich einen Knopf im Fallbearbeitungssystem. Und innerhalb weniger Tage erhalte ich die Antworten.
Welches Ausmaß hat die Finanzkriminalität, auf die Sie gestoßen sind?
Ein industrielles Ausmaß. Nach der letzten Schätzung von Europol verliert die EU jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Euro allein durch Mehrwertsteuerbetrug. Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht um innere Sicherheit, denn wir sehen, dass hinter diesen Fällen von Mehrwertsteuer- und Zollbetrug die organisierte Kriminalität steckt. Wir beobachten eine Invasion krimineller organisierter Gruppen aus Drittländern, insbesondere aus China.
Was sind das für Organisationen?
Das sind international organisierte, flexible und hochspezialisierte Gruppierungen. Allein in der „Operation Admiral“ haben wir fünf kriminelle Gruppierungen identifiziert, die durch ihre Aktivitäten 2,2 Milliarden Euro erschlichen hatten. Eine war auf Geldwäsche spezialisiert. Eine andere auf Beratung: Wo sollte man seine Unternehmen ansiedeln? Was sind die Schwächen in der Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedstaaten? Sie schufen Online-Plattformen, um Waren zu verkaufen. Sie hatten ihr eigenes Kommunikationssystem. Und besonders beunruhigend war, dass sie begonnen hatten, gewalttätig zu werden. Die Leute denken immer, dass es bei Finanzkriminalität um „White Collar Crime“ geht, um Anwälte, Buchhalter, Spezialisten. Aber auch die klassische Mafia verlagert ihr Geschäft dorthin.

Weil es weniger riskant, aber hochprofitabel ist. Im Drogenhandel riskiert man, lange im Gefängnis zu landen. Wenn man aber 100 Strohfirmen in fünf EU-Ländern gründet, ist die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, eher gering. Und selbst wenn man erwischt wird, ist die Strafe in einigen Mitgliedstaaten sehr gering.
Können Sie durch Ihre Ermittlungen gestohlenes Geld zurückholen?
Im Rahmen unserer Ermittlungen beschlagnahmen wir Waren und Vermögenswerte. Wenn es dann ein endgültiges Urteil gibt und die Gerichte entscheiden, dass eine Einziehung erfolgt, vollstreckt diese der jeweilige Mitgliedstaat. Im letzten Jahr beliefen sich die der EUStA erteilten Sicherstellungsentscheidungen auf über 1,5 Milliarden Euro, der Wert der von uns sichergestellten Vermögenswerte betrug 849 Millionen Euro. Ich würde also sagen, dass wir „mit Gewinn“ arbeiten.
Die EUStA darf nur in bestimmten Fällen ermitteln, etwa wenn es um Korruption und Betrug mit EU-Geldern geht, um Zollbetrug oder um Mehrwertsteuerbetrug ab einer Schadenssumme von zehn Millionen Euro. Würden Sie sich wünschen, dass dieses Mandat erweitert wird?
Eine Zuständigkeit, die wir gerne hätten, ist die Umgehung von Sanktionen. Auch das passiert ja nicht auf dem Gebiet eines einzelnen Landes. Und es bringt nichts, wenn die Liste der Sanktionen länger wird, sie aber nicht durchgesetzt werden. Wir sind keine Wunderwaffe, aber als grenzüberschreitende Strafverfolgungsbehörde können wir da sicher helfen.
Drei EU-Staaten sind noch immer nicht Teil der EUStA: Irland will erst nächstes Jahr beitreten. Dänemark hat eine grundsätzliche Ausnahmeregelung im Rahmen der EU-Verträge. Und Ungarn will gar nicht mitmachen. Warum nicht?
Darauf kann ich nicht antworten, weil das eine politische Entscheidung ist. Ich weiß, dass viele Kollegen aus der Staatsanwaltschaft und aus den Strafverfolgungsbehörden in Ungarn gern beitreten würden, weil sie sehen, wie wir arbeiten. Wir kooperieren in einigen Fällen. Aber letztlich müssen die Politiker diese Frage beantworten.
In die Schlagzeilen schafft es die EUStA vor allem mit Ermittlungen gegen prominente Politiker. Kürzlich ließen Sie Federica Mogherini in Polizeigewahrsam nehmen, die frühere Außenbeauftragte der EU. Sie verdächtigen sie der Korruption und des Betrugs im Zusammenhang mit Trainingsprogrammen für Nachwuchsdiplomaten. Mogherini weist die Vorwürfe zurück. Und in Brüssel kritisiert so mancher Ihr Vorgehen als zu forsch.
Ich bekomme mit, dass viel über diesen Fall geredet wird, und das besorgt mich ein wenig. Die Tatsache, dass man in Brüssel arbeitet und sogar eine wichtige Funktion ausfüllt, macht einen nicht tugendhafter und schon gar nicht unantastbar. Die EUStA wurde eingerichtet, um sicherzustellen, dass das Gesetz für alle gleich ist. Und ich hoffe, dass jeder diese Botschaft verstanden hat. Seit meinem ersten Tag in dieser Funktion habe ich Menschen getroffen, die sich Sorgen um das Vertrauen der EU-Bürger in die EU-Institutionen machen. Ich stimme zu, dass dies ein wichtiges Anliegen ist, aber man kann sie nicht täuschen. Man kann nicht so tun, als würde nichts passieren, wenn etwas passiert. Der beste Weg, das Vertrauen zu bewahren, besteht nicht darin, den Schmutz unter den Teppich zu kehren. Es wird bewahrt, indem man das Haus putzt und Ordnung schafft. Das ist es, was die Demokratie gerade in diesen Zeiten stark macht. Wir dürfen nicht als schwach angesehen werden!
Sie sind seit 30 Jahren Staatsanwältin. In Ihrer Heimat hatten Sie zuletzt die Antikorruptions-Behörde geleitet und Hunderte Politiker ins Gefängnis gebracht. Sie wurden gefeuert, und die rumänische Regierung versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass Sie Europäische Generalstaatsanwältin wurden. Nächstes Jahr endet nun Ihre Amtszeit. Haben Sie Pläne für danach?
Nein. Es gibt Gerüchte, dass ich in die Politik gehen werde. Aber ich habe es schon oft gesagt und sage es noch einmal: Ich gehe nicht in die Politik. Ich werde versuchen, der Justiz nahe zu bleiben. Wenn ich etwa die Möglichkeit hätte, meine Erfahrungen mit jungen Staatsanwälten zu teilen, würde ich das gerne tun.





















