Ethanol: Zum Trinken erlaubt, zum Desinfizieren nicht? | ABC-Z

Alkohol – genauer: Ethanol – bleibt erlaubt. In Wein, Bier oder Schnaps darf jeder EU-Bürger weiter so viel davon trinken, wie es ihm gefällt. Das ist die gute Nachricht. Als Desinfektionsmittel allerdings könnte es dem „Trinkalkohol“ in Europa bald an den Kragen gehen.
Noch im November will der Fachausschuss der Europäischen Chemikalienagentur eine Empfehlung abgeben. Kritiker befürchten, dass Ethanol in Desinfektionsmitteln als potentiell krebserregend eingestuft wird und entsprechend gekennzeichnet werden muss. Das wäre nicht nur schwer zu vermitteln, schließlich darf es weiter nach Belieben konsumiert werden. Es wäre auch ein veritables Problem für Krankenhäuser, Arztpraxen, Labore und überall dort, wo großflächig und regelmäßig desinfiziert werden muss.
Vor allem im Gesundheitswesen gilt Ethanol bislang wegen seiner stark keimtötenden Eigenschaften als unverzichtbar. Zudem sei Ethanol der einzige Alkohol, der umfassend gegen „unbehüllte Viren“, etwa Polioviren, wirke, warnten schon Ende März der Pharmaverband Deutschland und ein gutes Dutzend weiterer Verbände der Gesundheitswirtschaft. Eine Alternative mit der gleichen Wirksamkeit gebe es nicht. An den Überlegungen der EU, Ethanol in Desinfektionsmitteln trotzdem als sogenannten CMR-Stoff einzustufen, also als potentiell krebserregend, erbgutschädigend und reproduktionstoxisch, hat der Appell nichts geändert. Im Gegenteil, das Verfahren nimmt Fahrt auf.
Breiter Dissens in der Medizin und in Unternehmen
Ende November soll der zuständige Ausschuss der Chemikalienagentur Echa sein Votum abgeben, Anfang des kommenden Jahres schon könnte die EU-Kommission dann entscheiden. Die Zeit wird knapp, und unter den Betroffenen wächst die Sorge. Vorige Woche nun meldete sich ein breites Bündnis aus mehr als 840 Institutionen, Verbänden, Wirtschaftsgruppen und Wissenschaftlern in einem offenen Brief zu Wort. Unterzeichnet unter anderem von den Universitätskliniken Köln, Frankfurt und Heidelberg, der Bundesärztekammer, Lebensmittel-, Kosmetik- und Chemieverbänden, zudem prominent von Lars Schaade, dem Präsidenten des Robert-Koch-Institutes, warnt die Gruppe eindringlich: „Die Neueinstufung würde enorme Probleme für die öffentliche Gesundheit sowie Lebensmittelsicherheit verursachen und die produzierenden Gewerbe in der EU stark behindern.“ Ethanol sei als Desinfektionsmittel und Teil von Antiseptika unverzichtbar für „den wirtschaftlichen Wohlstand und die industrielle Resilienz in der gesamten EU“.
Dass Ethanol grenzenlos weiter getrunken werden darf, als Desinfektionsmittel allerdings stark eingeschränkt werden könnte, hat mit unterschiedlichen Rechtsrahmen zu tun. Die EU überprüft zurzeit die sogenannte Biozidprodukte-Verordnung BPR. Untersucht wird konkret, ob Inhaltsstoffe wie Ethanol als Desinfektionsmittel, Antiseptikum oder Insektenspray sicher und wirksam sind. Im Lebensmittelrecht ist der Trinkalkohol hingegen seit jeher zum menschlichen Verzehr zugelassen, trotz bekannter Gesundheitsrisiken. Die Risiken sind hier jedoch reguliert: etwa durch Verbraucherschutz, Warnhinweise oder Alkoholsteuern.
Streit um Deutungshoheit über Gefahreneigenschaften
Kritiker fürchten allerdings, dass beide Sphären vermischt werden: Denn Grundlage für die mögliche Einstufung als potentiell krebserregend sind nach Angaben der Petition ausschließlich Daten, die sich „auf den übermäßigen Konsum alkoholischer Getränke“ beziehen. Dass in diesem Fall erhebliche Gefahren für die Gesundheit auftreten, ist wissenschaftlich unbestritten. Heftig umstritten ist allerdings, ob diese Gefahren bei der Verwendung als Desinfektionsmittel überhaupt zum Tragen kommen.
Der Teufel steckt im Detail: Im Rahmen der Biozidverordnung werden Stoffe nämlich ausschließlich auf Basis ihrer „intrinsischen Gefahren“ bewertet, also unabhängig von einer konkreten Anwendung. Vor allem Menschen, die beruflich mit Bioziden umgehen müssen, sollen so geschützt werden. Im Fall von Ethanol ist das nach Ansicht der Kritiker weit übertrieben: Gefahreneigenschaften von Ethanol seien nur bei einer missbräuchlichen oralen Aufnahme relevant, schreibt der Chemieverband VCI. Im Gesundheitsbereich und in allen anderen Industriezweigen sei die Verwendung sicher und gut geregelt, urteilte der Pharmaverband. „Uns ist in diesem Zusammenhang kein Fall einer Berufskrankheit, die im Zusammenhang mit Ethanol steht, bekannt.“
Einschränkungen für Privatpersonen und professionelle Nutzung
Das Verfahren läuft schon 25 Jahre. Im Jahr 2000 hatte die EU-Kommission die Überprüfung im Rahmen der Biozidverordnung angestoßen und Griechenland mit der Bewertung von Ethanol beauftragt. Erst im März 2024 reichten die dortigen Behörden ihren Bewertungsbericht bei der Europäischen Chemikalienagentur Echa in Helsinki ein, entsprechend hat die Kritik daran erst spät Fahrt aufgenommen. Am 26. November soll der Ausschuss für Biozidprodukte nun seine Empfehlung abgeben. Entscheiden muss die EU-Kommission voraussichtlich Anfang nächsten Jahres. Bisher hat sich die Kommission regelmäßig an die Empfehlungen ihrer Experten gehalten.
Die Kritiker fürchten erhebliche Folgen. Sollte Ethanol in der Verordnung als krebserregend und reproduktionstoxisch eingestuft werden, dürften entsprechende Produkte nicht mehr an Privatpersonen abgegeben werden, heißt es in dem Brief. Die Verfügbarkeit im professionellen Rahmen würde stark eingeschränkt. Ausnahmen gäbe es nur zeitlich begrenzt für eine berufliche Nutzung. Darüber müsse allerdings von Fall zu Fall jeder einzelne EU-Mitgliedstaat „nach einem bürokratischen Risikobewertungsverfahren“ entscheiden. So könnten für Krankenhäuser, Supermärkte, landwirtschaftliche Betriebe, Labore und selbst Restaurants jeweils eigene Bewertungsverfahren nötig werden.
Missbrauch von Desinfektionsmitteln ausgeschlossen
Nach den Worten von Arne Roettger, Geschäftsführer des Desinfektionsherstellers Bode Chemie, käme eine Einstufung als CMR-Stoff einem Aus gleich. Überall, wo Frauen arbeiteten, potentiell Schwangere also, dürfe Ethanol nicht mehr verwendet werden, sagte er im Frühjahr der F.A.Z. Bode versteht sich als einer der größten Hersteller von Desinfektionsmitteln für Kliniken in Europa. Nach Roettgers Worten basieren 60 Prozent der Desinfektionsmittel auf Ethanol. Die Mittel seien in aller Regel Kombinationen aus verschiedenen Wirkstoffen, ohne Ethanol bleibe aber eine Wirkungslücke. „Und wenn ‚potentiell krebserregend‘ auf dem Etikett steht, wird sie keiner mehr verwenden.“ Dabei sei Ethanol jahrzehnte-, ja fast jahrhundertelang in der Verwendung, es sei sicher und erprobt. Als Desinfektionsmittel sei der Stoff zudem so vergällt, dass ein Missbrauch als Genuss ausgeschlossen werden könne.
Der europäische Markt für ethanolbasierte Handdesinfektionsmittel wurde von Kings Research 2023 auf 1,8 Milliarden Dollar geschätzt – bis 2030 unterstellen die Marktforscher ein jährliches Wachstum von sechs bis sieben Prozent, angetrieben durch zunehmendes öffentliches Bewusstsein und strenge Hygienestandards. Als mögliche Alternative für Ethanol gilt Propanol, allerdings mit einem anderen Wirkungsspektrum. Pharma Deutschland warnt zudem vor Lieferengpässen. Im Gegensatz zu „mehreren Hundert“ Ethanolherstellern in der EU gebe es nur fünf Produzenten von Propanol.





















