“Es waren Teufel”: Syriens Kulturszene hofft auf einen Neuanfang | ABC-Z
“Es war eine Kultur der Angst und des Schreckens”, sagt Ramy Al-Asheq, “Polizei und Geheimdienst waren allgegenwärtig. Niemand konnte ihnen entkommen, auch im alltäglichen Leben nicht. Wie kann es in einer Nation der Angst irgendeine Freiheit der Kultur, der Literatur, der Musik oder des Journalismus geben?”
Der syrisch-palästinensische Lyriker, Journalist und Kurator Ramy Al-Asheq wuchs im Flüchtlingslager Jarmuk am Rande der Hauptstadt Damaskus auf. Wegen seiner Berichterstattung über dieUnruhen im Land musste er 2012 aus Syrien flüchten. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland, war als Autor und Kurator für das Literaturhaus Berlin tätig. Auf Deutsch liegt sein Lyrikband “Gedächtnishunde” vor. “Ich hatte alle Hoffnung verloren”, sagt er im DW-Gespräch, “jetzt kehrt sie zurück.” Wenige Tage nach dem Sturz von Diktator Assad fühlt er sich wieder “lebendig”.
Nicht anders erging es Yabbar Abdullah. Der in Köln lebende Archäologe und Kurator schwärmt von den aufregenden Stunden, als Aufständische den Präsidentenpalast der Hauptstadt Damaskus stürmten, der Potentat heimlich in ein Flugzeug stieg, aus dem Land floh und die Menschen auf den Straßen zu jubeln und zu feiern begannen – auch in Deutschland. “Ein unbeschreibliches Gefühl”, so Abdullah, “kein Syrer hat in dieser Nacht geschlafen. So müsst Ihr Euch gefühlt haben, als die Berliner Mauer fiel.”
Tatsächlich war es eine historische Zäsur. Mehr als ein halbes Jahrhundert herrschte der Assad-Clan. Nach dem Tod von Hafiz al-Assad (1930-2000) übernahm im Jahr 2000 sein Sohn Baschar die Macht. Systematische Entführungen, Morde und Folter durch Polizei, Militär und Geheimdienste waren an der Tagesordnung. Anfangs friedliche Proteste der Bevölkerung für mehr Freiheit – im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 – schlug das Regime mit brutaler Gewalt nieder.
Es kam zum Bürgerkrieg, in den auch immer mehr internationale Kriegsparteien eingriffen. Der Konflikt löste eine Flüchtlingskrise aus – nach UN-Angaben die schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda 1994. Rund 700.000 Geflüchtete leben heute in Deutschland.
Eine von ihnen ist Kholoud Charaf. “Der Gedanke an die vielen Verschwundenen bricht mir das Herz”, sagt die Lyrikerin, “ich habe viel geweint.” Die Welt habe gesehen, wie brutal das Regime gewesen sei: “Es waren Teufel auf Erden!” Kholoud Charaf war von 2020 bis 2023 Stipendiatin des PEN-Programms “Writers-in-Exile”. Die deutsche Schriftstellervereinigung hilft verfolgten Autorinnen und Autoren mit Geld und einer Unterkunft und garantiert ihnen vor allem Sicherheit. Charafs Werke wurden vielfach ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt.
“Al-Assad und die Baath-Partei haben vom Blut der Syrer gelebt, um ihren Luxus und ihre Macht zu sichern”, sagt die 44-Jährige. Mit dem Sturz des Regimes seien die “Ketten der Angst” gesprengt und die “schiere Unterdrückung” hoffentlich beendet worden. Während ihrer Ausbildung zur Medizintechnikerin – später studierte sie arabische Literatur – sei sie gezwungen gewesen, als Krankenschwester zu arbeiten, berichtet sie im DW-Gespräch. “Das Regime wollte, dass ich Zeuge des Leidens anderer wurde, um Angst zu schüren. Ich sah, was geschah und musste schweigen.”
Reinhild Bopp-Grüter hat schon viel in Syrien gesehen. Bis 2002, als sich das mit Iran verbündete Land auf einer vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush beschworenen “Achse des Bösen” wiederfand, organisierte die Kölner Kunsthistorikerin viele Kunstreisen, führte Zeugnisse der überreichen Kulturgeschichte Syriens vor, die bis ins Römisch-Griechische Reich Alexander des Großen (356 v. Chr. – 323 v. Ch) zurückreicht. Die brutale Ermordung des Chef-Archäologen der antiken Ruinenstätte von Palmyra im Jahr 2015 durch IS-Terroristen war für Bopp-Grüter, wie sie sagt, ein “Wendepunkt”.
Noch währendder Flüchtlingswelle 2016 gründete sie mit Gleichgesinnten und Künstlern in Köln den deutsch-syrischen Kulturverein “17-3-17”, der bis heute Kunstausstellungen, Konzerte, Literaturlesungen, Theater-, Film- und Tanzaufführungen veranstaltet. Höhepunkt war 2022 die Schau “Gegen das Vergessen” im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum – mit Bildern von vibrierendem Alltagsleben, traditionsreicher Kunst und dem Miteinander verschiedener Kulturen und Religionen. “Wir wollen ein anderes Syrien zeigen und Syrern eine positive Erinnerung an ihre Heimat geben”, so Kurator Yabbar Abdullah damals zur Deutschen Welle. Für ihn markiert der Fall Assads auch eine Befreiung der Kultur. “Die kulturelle Vielfalt war ein Opfer Assads”, sagt er.
Der Slogan “Gegen das Vergessen” könnte aktueller nicht sein. Obwohl noch unklar ist, wohin Syrien unter dem Einfluss der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) steuert: Die Aufarbeitung der Vergangenheit hat begonnen. Ob sie den Schlächtern des Regimes, seinen Spitzeln und Zuträgern eines Tages verzeihen kann? “Es geht nicht um persönliche Rachegefühle”, sagt Kholoud Charaf, “wir dürfen mit den Schuldigen nicht umgehen wie sie mit uns. Sie gehören vor Gericht und müssen ein faires Urteil bekommen.” Alles andere werde den Weg zu Freiheit und Demokratie versperren, so Charaf.
Ramy Al-Asheq sieht das Ende der “kulturellen Säuberung” gekommen. Künstler, Schriftsteller und Kulturaktivisten seien aus der Heimat vertrieben oder brutal zum Schweigen gebracht worden. Darüber hinaus habe das Regime aber einen systematischen Austausch der Kultur betrieben – des Schönen gegen das Hässliche, der Freiheit gegen die Sklaverei, der Zukunftsfreude gegen eine trostlose Rückwärtsgewandtheit. Das sei die Methode totalitärer Regime, Kultur in Unterwerfung umzuwandeln, so Al-Asheq: “Der Zorn wird zum Murren und am Ende zu Akzeptanz und Ergebenheit.”
Am liebsten würde Kurator Jabbar Abdullah sofort in die Heimat aufbrechen. Er möchte dort ein Dokumentationszentrum nach dem Vorbild des Kölner EL-DE-Hauses aufbauen, das den Nazis einst als Dienstelle der Gestapo und Gefängnis diente und heute erfolgreich NS-Geschichte aufarbeitet.
“Die Menschen brauchen Zeit, um die Angst zu überwinden”, glaubt Ramy Al-Asheq, der das erste Mal nach langer Zeit wieder in Damaskus ist: “Die größte Barriere zwischen uns und der Fantasie, zwischen uns und dem Frieden, zwischen uns und der Freiheit, die ist jetzt verschwunden.” Vor allem Menschen aus der Kulturszene sollten jetzt nach Syrien gehen. “Wir alle haben Bedenken, wer oder was nach Assad kommt, Ja. Aber wir müssen jetzt Teil des Wandels sein!”
Autor: Stefan Dege
Von Stefan Dege