Erstmals Krankheit und Sucht häufigster Grund für Überschuldung der Deutschen | ABC-Z
Viele Jahre lang war Arbeitslosigkeit die häufigste Ursache für eine Überschuldung. Das hat sich nun geändert. Ein Grund ist die Pandemie. Als besonders gefährlich erweisen sich kleinere Ratenkredite, die immer mehr Deutsche in großer Zahl abschließen.
Krankheit und Sucht haben Arbeitslosigkeit als häufigste Ursache für Überschuldung in Deutschland abgelöst. Das zeigt der „Überschuldungsreport 2024“ des Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF), der WELT AM SONNTAG exklusiv vorliegt. Mit 18,4 Prozent beruhte demnach fast jeder fünfte der insgesamt 5,69 Millionen Fälle im Jahr 2023 auf gesundheitlichen Problemen.
Ein Jobverlust sei bei 17,5 Prozent der Auslöser gewesen, heißt es in der Studie, die auf Daten von Schuldnerberatungsstellen basiert. Dahinter folgen Scheidung/Trennung, Einkommensarmut und das Konsumverhalten als Gründe.
Als überschuldet gilt laut dem IFF, wer seinen Zahlungsverpflichtungen über längere Zeit nicht mehr nachkommen kann, ohne die eigene Grundversorgung zu gefährden. Dass dabei Arbeitslosigkeit erstmals seit vielen Jahren nicht mehr die Hauptursache ist, begründen Experten mit der stabilen Beschäftigungslage und der demografischen Entwicklung in Deutschland.
„Wir haben einen Arbeitnehmermarkt, zudem fehlen vielerorts Arbeits- und Fachkräfte. Das Thema Arbeitsplatzverlust hat deswegen stetig an Bedeutung verloren in den vergangenen Jahren“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei der Auskunftei Creditreform, die selbst jedes Jahr den „Schuldner-Atlas“ herausgibt.
Auch dieser bestätigt den vom IFF aufgezeigten Trend: So ging zwischen 2008 und 2023 die Zahl der Fälle mit Arbeitslosigkeit als Hauptüberschuldungsgrund um 45 Prozent zurück, während die Faktoren Krankheit/Sucht/Unfall um 37 Prozent zulegten. Hantzsch sieht dabei auch eine verbesserte Diagnostik und die Auswirkungen der Corona-Pandemie als Beschleuniger dieser Entwicklung. „Der Zusammenhang zwischen Krankheit und Überschuldung ist durch Corona noch mal deutlicher geworden.“
Der Einstieg in die Schuldenspirale ist unabhängig vom Auslöser schnell passiert. Denn trotz zuletzt wieder sinkender Inflationsraten bleibt die finanzielle Belastung für viele Haushalte hoch, insbesondere für Geringverdiener, Alleinerziehende und Alleinlebende, wie die Statistik zeigt. „Für viele ist das ein Ausgabenschock“, sagt IFF-Ökonomin Hanne Roggemann, eine der Autorinnen des nicht repräsentativen Überschuldungsreports, für den knapp 200.000 Beratungsfälle aus dem Zeitraum 2008 bis 2023 von insgesamt 114 Schuldnerberatungsstellen ausgewertet wurden, davon fast 24.000 aus dem vergangenen Jahr.
Geld schulden die Betroffenen dabei oftmals mehreren Gläubigern gleichzeitig, bei den meisten sind es bis zu vier verschiedene. 23 Prozent der Ratsuchenden haben aber auch jeweils über 20 Kreditoren mit offenen Forderungen. Im Mittel belaufen sich die Schulden laut dem 2023er-Report auf 16.547 Euro. Die Bandbreite ist groß: Am häufigsten sind mit fast 35 Prozent der Fälle Außenstände von weniger als 10.000 Euro, am zweithäufigsten ist allerdings das andere Ende der Skala mit jeweils mehr als 40.000 Euro Schulden.
Bei den Forderungsarten stehen Ratenkredite ganz oben, gefolgt von Außenständen bei der öffentlichen Hand, sei es in Form fälliger Steuern, gesetzlicher Renten- und Krankenversicherungsbeiträge, offener Strafzahlungen oder Rückforderungen von Sozialleistungen. Dahinter folgen Telekommunikationsunternehmen und Gewerbetreibende. „Insbesondere Ratenkredite spielen eine große Rolle bei der Überschuldung in Deutschland“, sagt Roggemann. Fast jeder fünfte Ratsuchende habe mindestens eine Forderung, die aus solchen Abzahlungskrediten resultiere.
Gemeint sind etwa „Buy now, pay later“-Angebote, bei denen die Rechnung gestundet wird und damit erst später beglichen werden muss. Diese Angebote von vor allem Zahlungsdienstleistern im Onlinehandel wie PayPal oder Klarna richten sich vorwiegend an jüngere, internetaffine und besonders konsumfreudige Zielgruppen – und bergen die Gefahr hoher Verzugszinsen und Mahngebühren. Der Verbraucherzentrale Bundesverband jedenfalls warnt ebenso wie das IFF vor diesen Angeboten. Sie förderten impulsive Kaufentscheidungen und erschwerten es, die Übersicht über offene Forderungen zu behalten.
„Leider ist finanzielle Not ein Tabuthema“
Auffällig ist dem Überschuldungsreport zufolge auch ein starker Anstieg an Kleinkrediten zu weniger als 1000 Euro. Das bestätigt auch Creditreform: Der Auskunftei zufolge lagen zuletzt gut 40 Prozent aller neu abgeschlossenen Ratenkredite unter dieser Grenze. Allein im Jahr 2022 sei die Zahl von zwei auf 3,8 Millionen gestiegen, ein Plus von 90 Prozent.
Schuldnerberater fürchten dem IFF-Report zufolge nun eine „zunehmende finanzielle Überforderung“ durch unter anderem diverse Kleinkredite, kontinuierliche Dispo-Umschuldungen und Kettenkredite, bei denen alte Schulden in einen neuen Kredit mit höheren monatlichen Zinsen übertragen werden.
„Die bisherigen Verbraucherschutzkreditrichtlinien bieten im digitalen Umfeld nicht genügend Schutz“, kritisiert Roggemann. Für Abhilfe könne aber eine EU-Vorgabe sorgen, die Deutschland bis Ende 2025 umsetzen muss. „Das verhindert hoffentlich wirksamer, dass Menschen in finanzielle Schwierigkeiten geraten.“
Betroffene holten sich meist viel zu spät Hilfe, sagt die Expertin. „Viele versuchen, ihre Geldprobleme erst mal allein zu lösen. Damit aber verschleppen sie oftmals das Problem und verschlimmern die eigene Lage.“ Rat brauche schon derjenige, bei dem absehbar sei, dass er Rechnungen weder sofort noch in den Folgewochen begleichen könne.
Philipp Blomeyer, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutschland im Plus, die sich für private Überschuldungsprävention einsetzt und den Überschuldungsreport des IFF fördert, sagt: „Leider ist finanzielle Not ein Tabuthema.“ Ohnehin werde in Deutschland besonders wenig über Geld geredet. „Eigentlich muss das schon im Kindergarten anfangen, spätestens aber in der Schule.“ Finanzielle Bildung sei ein entscheidender Hebel in der Prävention.
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie über Recycling und Mittelstandsunternehmen.