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Erster CSD in Wittenberg: Eine Familie ist gespalten | ABC-Z

Als Elias Zarrad gerade dabei ist, den Aufbau der Bühne für den ersten Christopher Street Day (CSD) in Wittenberg zu koordinieren, taucht sein Bruder am Rande des Marktplatzes mit seinen Neonazi-Freunden auf. Argwöhnisch schauen die Rechtsradikalen zu Elias und seinen Leuten hinüber. Zu sagen haben sich die Brüder schon lange nichts mehr. Beide haben für diesen Samstag zu Demonstrationen aufgerufen. Während der 23 Jahre alte Elias Zarrad den CSD mitorganisiert, ruft Jonas Zarrad, 35, unter dem Motto „Familie, Heimat und Nation statt CSD und Perversion“ zu einem rechtsextremen Gegenprotest auf.

Am Markt in der Wittenberger Altstadt hatten sich am Morgen zunächst die ersten Teilnehmer der Regenbogen-Parade getroffen. Tische und Stühle wurden aufgebaut, Frühstück ausgepackt. Ein paar Jugendliche beklebten sich mit Tattoos und schminkten sich Regenbogenflaggen auf die Wangen. Dabei war auch Emily Winkler. Sie lief schon als Jugendliche durch die 45.000-Einwohner-Stadt in Sachsen-Anhalt – ohne sich damals eingestehen zu können, dass sie lesbisch ist. Erst nach dem Umzug in eine Großstadt konnte sie ihre Identität akzeptieren. Inzwischen pendelt sie für die Arbeit zurück nach Wittenberg. Im Frühjahr erfuhr sie von ihrer Schwester, dass in ihrer Heimatstadt erstmals ein CSD organisiert werden sollte. Jetzt ist Winkler eine der Ordnerinnen, das Vorgehen ist klar besprochen: Gefahren meiden; falls es zu Störungen kommen sollte, keine Diskussion, keine Alleingänge.

Queere Menschen als Feindbild

Allein an diesem Samstag haben in mindestens 21 Orten in Deutschland Menschen für die Rechte der queeren Community demonstriert. Es gab in diesem Jahr so viele CSDs wie in keinem Jahr zuvor. Gleichzeitig hat eine neue Generation von Neonazis queere Menschen unter dem Deckmantel des Kinderschutzes und der „Bewahrung der traditionellen Familie“ als Feindbild auserkoren. 2024 hatten 700 zumeist jugendliche Rechtsextreme Aufsehen erregt, als sie im sächsischen Bautzen in Hör- und Sichtweite zum örtlichen Regenbogenmarsch gegen sexuelle Vielfalt hetzten. Laut dem Bundeskriminalamt wurden 2024 insgesamt 1765 Straftaten im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung der Opfer registriert – ein Anstieg um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In 1152 Fällen richteten sich die Taten gegen Trans- oder nicht-binäre Personen, was einem Plus von 35 Prozent entspricht. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Jonas Zarrad war einer von etwa 70 Teilnehmern der Gegendemonstration.Jannis Holl

Auch in diesem Jahr kam es bereits zu zahlreichen Vorfällen. Der CSD in Gelsenkirchen wurde abgesagt, weil ein Unbekannter drohte, mit dem Auto in eine queere Veranstaltung zu rasen. In Wernigerode soll ein Mann in einer Kneipe angekündigt haben, den örtlichen CSD mit einer Schusswaffe anzugreifen. Erst vor wenigen Tagen überfielen Vermummte ein Straßenfest für Vielfalt in Bad Freienwalde bei Berlin.

Ungefähr einen Kilometer vom Markt entfernt, am Hauptbahnhof, versammelt am Samstag Jonas Zarrad seine Demon­stration. Elias Zarrad war noch ein kleines Kind, als sich sein zwölf Jahre älterer Bruder radikalisierte – gerade einmal vier Jahre alt. Er erinnert sich an ihn als einen großen Bruder, mit dem man auch mal länger zusammen aufbleiben und fernsehen durfte. Dann freundete sich Jonas Zarrad mit rechtsextremen Jugendlichen an. Daheim gab es Zoff wegen schlechter Noten in der Schule. Es folgte der Auszug. Danach soll Jonas Zarrad zwischenzeitlich zur Bundeswehr gegangen sein, bei der letzten Kreistagswahl in Wittenberg trat er dann für die rechtsextremen Kleinstpartei „Die Heimat“, ehemals NPD, an. Der Kontakt zur Familie ist so gut wie abgebrochen.

Elias Zarrad ist Versammlungsleiter beim ersten CSD in Wittenberg.
Elias Zarrad ist Versammlungsleiter beim ersten CSD in Wittenberg.Anna Abraham

Elias Zarrad ist Student für Förderschullehramt in Halle, Teil des Landesvorstandes der Linken in Sachsen-Anhalt – und heterosexuell. „Als Hete kann ich theoretisch hier die Beine hochlegen und entspannen, gerade als Cis-Mann, das ist übelst einfach“, sagt er. Aber aus seiner Sicht sei es das Mindeste, die Versammlung anzumelden und mitzuorganisieren. Er befürchtete im Vorfeld, die Veranstaltung könnte aufgrund der Sicherheitslage abgebrochen oder Teilnehmer könnten auf dem Rückweg angegangen werden.

Gefühlte Gefahr steigt

Luna Möbius, 24 Jahre alt, ist trans und im Landkreis Wittenberg aufgewachsen. Sie erzählt, dass sie schon früher auf dem einstündigen Schulweg im Bus an jeder Haltestelle mit neuen abfälligen Bemerkungen konfrontiert gewesen sei. Beim CSD 2023 in Halle sei ihr dann eine mit Farbe gefüllte Flasche vor die Füße geworfen worden. Aus solchen Vorfällen haben Polizei und Versammlungsbehörden gelernt. Bei CSDs bewachen sie auch Seitenstraßen und Anreisepunkte wie Bahnhöfe; die rechtsextremen Gegendemonstranten versuchen sie so weit wie möglich von den Regenbogen-Veranstaltungen fernzuhalten. So kann sich auch Neonazi Jonas Zarrad kaum Hoffnungen machen, seinen politischen Gegner zu stellen, als sich sein Demonstrationszug gegen 13 Uhr vom Wittenberger Hauptbahnhof in Bewegung setzt.

Zarrad trägt ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Rebellische Jugend“. Es ist ein Shirt der „Jungen Nationalisten“ (JN), der Jugendorganisation der „Heimat“. Schwarze Schweißbänder bedecken seine Handgelenke, womöglich, um verbotene Tätowierungen abzudecken. Rund 70 Leute konnte er gegen den CSD mobilisieren. Sie folgen mit JN-Fahnen und Bannern einem VW Touran mit Reichskriegsflagge; auf einem Anhänger stehen Lautsprecher, aus denen rechtsextremer Rap dröhnt. Die meisten von ihnen sind junge JN-Aktivisten und Skinheads, darunter auch ein paar Frauen. Aber auch ein älterer Herr im Camouflage-Shirt und mit einer Kappe auf der „Trump 2020“ steht, läuft mit. Genauso wie eine Gruppe Kinder, der älteste kaum älter als 14 Jahre alt, ausgestattet mit Mountainbikes und E-Rollern. Nur ihr Mischbier müssen sie am Bahnhof lassen. Im Demonstrationszug herrscht Alkoholverbot, vielleicht, damit Parolen wie „Es gibt kein Recht auf Homopropaganda“ auch ohne Aussetzer sitzen.

Zu seinem jüngeren Bruder will Jonas Zarrad eigentlich nichts sagen. Tut er dann aber doch: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, fährt es aus ihm heraus. Am Schlossplatz angekommen, zeigt sich der JN-Funktionär enttäuscht, dass man dem CSD nicht begegnet ist. Aber vielleicht habe man ja Glück und sehe „diese komischen Menschen“ später. Dazu kommt es nicht. Nach einer kurzen, holprigen Rede eines Gastredners der JN aus Brandenburg geleitet die Polizei den Demonstrationszug Richtung Bahnhof zurück.

Nicht alleine in der Stadt

Elias Zarrad läuft derweil mit Ordnerbinde, Walkie-Talkie und einem T-Shirt der Organisation Seawatch neben seiner Demo entlang. Am Markt ziehen die rund 460 Teilnehmer des CSDs nach einem Gastauftritt von der gebürtigen Wittenberger Dragqueen Patrischa Davis mit vielen Regenbogenfahnen, Musik und Schildern durch die Altstadt. Eine Teilnehmerin hat in den Farben der lesbischen Pride Flag, angelehnt an Taylor Swift, geschrieben: „You’re not on your Own, Kid“. Das Gefühl nimmt auch Emily Winkler von dem Tag mit: „Es bedeutet mir viel, zu sehen, dass ich hier in der Stadt nicht alleine bin.“ Winklers jüngeres Geschwister, Noa, nach der Schulzeit außerhalb von Wittenberg als non-binär geoutet, kann sich durch die Erfahrungen rund um den CSD inzwischen sogar vorstellen, in die Heimat zurückzukehren. Durch das Engagement der beiden Schwestern beim CSD bekam Noa mit, wie viele queere Menschen in Wittenberg leben. „Dann hatte ich so das Gefühl, ja, ich bin hier willkommen. Ich könnte hier auch leben“, sagt Noa.

Ein Schild beim ersten CSD in Wittenberg
Ein Schild beim ersten CSD in WittenbergAnna Abraham

Am Ende des Tages sind bei der Polizei zwei Fälle von Beleidigungen angezeigt worden, einmal zusammen mit einer Drohung. Eine der Anzeigen hat Luna Möbius erstattet, sie wurde angepöbelt. Möbius filmte und stellte ein Video unter der Überschrift „Viel Spaß mit der Strafanzeige, Mausi“ auf Instagram.

Jonas und Elias Zarrad reden an diesem Tag nicht mehr miteinander. CSD-Organisator Elias sagt: „Ich will den auch etwas weghalten, weil ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass ich ihn von der Ideologie wegbekomme.“

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