Erst feiert er ein „coming home“, dann droht er Putin | ABC-Z

Brüssel. Bundeskanzler Friedrich Merz ist zum Antrittsbesuch bei den EU-Spitzen. Wie er Europa zur Chefsache macht, wo es jetzt Streit gibt
Am Tag vier seiner Kanzlerschaft blickt Friedrich Merz weit zurück zu den Anfängen seiner Laufbahn: Beim Antrittsbesuch in Brüssel sagt der Bundeskanzler, diese Reise sei für ihn wie ein „coming home“ – er komme nach Hause nach Brüssel und zur EU. Denn in der EU-Metropole hatte der CDU-Politiker 1989 seine Karriere begonnen, hier war der junge Jurist fünf Jahre lang EU-Abgeordneter, bevor er in den Bundestag wechselte.
Nicht nur wegen dieser Vorgeschichte sind in Brüssel die Erwartungen an den 69-Jährigen recht hoch: Mit ihm als Kanzler soll sich Deutschland in Europa so stark engagieren wie kaum je zuvor, hatte der CDU-Politiker versprochen, Deutschlands Stimme solle wieder mehr gehört werden.
Schon die erste Kanzler-Visite bei den EU-Spitzen macht allerdings auch klar: Die neue Europapolitik des ambitionierten Merz wird keine reine Harmonieveranstaltung. Er muss gleich mehrfach an diesem Tag die Ankündigung verteidigen, Deutschland werde seine Grenzkontrollen verstärken und Asylbewerber zurückweisen. Das hat nicht nur bei den betroffenen Nachbarländern für offene Verärgerung gesorgt und den Vorwurf eines EU-Rechtsverstoßes ausgelöst, es fordert auch die EU-Kommission als Hüterin der gemeinsamen Regeln heraus. „Es gibt keinen deutschen Alleingang“, versucht Merz die Wogen zu glätten, die Bundesregierung handele sehr abgestimmt mit den Nachbarn und im Einklang mit EU-Recht.
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Ärger um Grenzkontrollen: Niemand hat Notlage ausgerufen, sagt Merz
Die Grenzkontrollen würden in etwa so verstärkt wie bei der Fußball-EM 2024. Hatte Merz vor der Wahl ein „faktisches Einreiseverbot“ für Asylbewerber angekündigt, sagt er nun vorsichtiger: „Wir werden auch weiterhin zurückweisen.“ Merz betont auch: „Es hat niemand in der Bundesregierung, auch ich persönlich nicht, eine Notlage ausgerufen.“ Doch von der Leyen kommt um eine Klarstellung nicht umhin: „Migration ist eine gemeinsame europäische Herausforderung und braucht europäische Lösungen“. Die CDU-Politikerin pocht auf zeitliche Begrenzung der Grenzkontrollen, enge Absprachen mit der Kommission und Deutschlands Nachbarländern und auf die Umsetzung des gemeinsamen EU-Asylpakts.

Polizisten führen an der deutsch-dänischen Grenze im Kreis Schleswig-Flensburg Kontrollen durch. Die neue Bundesregierung hat verstärkte Kontrollen an den Außengrenzen angekündigt. An der Grenze zu Dänemark steht bei der Bundespolizei nun bei Bedarf weiteres Personal bereit.
© Marcus Golejewski/dpa | Marcus Golejewski
Der Konflikt bleibt, es ist nicht der einzige. Merz sagt auch „Meinungsverschiedenheiten und schwierige Diskussionen“ etwa beim künftigen EU-Haushalt voraus. Er erteilt Forderungen in Brüssel nach neuen europäischen Gemeinschaftsschulden zum Beispiel zur Aufrüstungsfinanzierung eine Absage – im Widerspruch zu Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. „Ich werde die Haltung der Bundesregierung nicht verändern“, betont Merz, die Verschuldung für den Corona-Aufbaufonds müsse eine Ausnahme bleiben. Beim Thema Bürokratieabbau setzt der Kanzler die verantwortliche Kommissionspräsidentin erneut unter Druck – er kündigt dazu Vorschläge aus Berlin an und fordert, als erstes das um ein Jahr vertagte EU-Lieferkettengesetz ganz zu streichen.

Größere Einigkeit besteht bei Themen wie dem Ukraine-Krieg. Merz unterstützt wie die EU den Vorstoß von US-Präsident Donald Trump für eine 30-tägige bedingungslose Waffenruhe und droht Russland mit weiteren Sanktionen, sollte es nicht darauf eingehen. „Der Ball liegt jetzt ausschließlich in Moskau“, sagt Merz. Das ist in Brüssel unstrittig, ebenso das Kanzler-Plädoyer für die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag in Brüssel.
© AFP | Nicolas Tucat
Merz will in der EU Schluss machen mit dem „German vote“
Der Klartext des Kanzlers kann die Stimmung ohnehin erstmal nicht trüben: In Brüssel wird fast noch mehr als ein Berliner Nein deutsche Unentschlossenheit gefürchtet. Die hatte durch den Dauer-Streit der Ampel-Koalition zuletzt immer neue Blüten getrieben: Die häufigen Enthaltungen der Bundesregierung bei Abstimmungen der Mitgliedstaaten sind längst als „German vote“ berühmt-berüchtigt. Merz hat versprochen, damit Schluss zu machen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Die EU-Politik will er stärker als bisher vom Kanzleramt aus steuern, dafür hat Merz den langjährigen deutschen EU-Botschafter Michael Clauß als europapolitischen Berater nach Berlin geholt. Der Top-Diplomat soll mithelfen, das Versprechen von Merz einzulösen: „Große Teile Europas, die Europäische Union allemal, sie warten auf uns, dass wir wieder einen kraftvollen Beitrag zum Gelingen des europäischen Projektes leisten“, hatte Merz bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags erklärt. EU-Ratspräsident Antonio Costa begrüßt die Ankündigung: „Ein starkes Deutschland ist wichtig für Europa“.