Ernst und viel Spaß | Abendzeitung München | ABC-Z
Dass ein Herr mit Hut und vier Saiten ein ganzes Orchester ersetzen kann, ist die erste Erkenntnis dieses gelungenen Abends. Jorge Glem heißt dieser Virtuose auf der Cuatro, einer kleinen südamerikanischen Laute, die mehr geschlagen als gezupft wird. Auf diesem Instrument arbeitete sich Glem in der Zugabe von Bach-Anklängen über die „Ode an die Freude“ bis zu folkloristischen Klängen hoch. Und die Isarphilharmonie tobte vor Begeisterung.
Davor hatte er mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela das Konzert „Odisea“ von Gonzalo Grau gespielt. Dieses 2022 im Hollywood Bowl von Los Angeles uraufgeführte Werk für Cuatro und Orchester verbindet gemäßigte Moderne mit Südamerikanischem und soll eine Reise vom Osten in den Westen Venezuelas darstellen. Viel Schlagzeug sorgte naturgemäß für einen folkloristischen Einschlag.
Auf vier Saiten singen
Dass der Solist trotz einer großen Orchesterbesetzung nicht unterging, war zwar auch einer kaum auffallenden Verstärkung zu verdanken. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Cuarto vom Spieler im Unterschied zur einer Gitarre ziemlich robust behandelt wird. Aber Glem schaffte es auch, über die rhythmische Kraft hinaus sein Instrument singen zu lassen – besonders eindrucksvoll in der Kadenz mit rasch kreisender Hand.
In solchen Momenten wird im Publikum dann jeder zum Südamerikaner. Und das ist genau das, was das Publikum von einem Gastspiel dieses Orchesters erwartet, das wie sein Chefdirigent Gustavo Dudamel aus dem lange Zeit etwas zu sehr idealisierten Musikerziehungsprojekt „El Sistema“ hervorgegangen ist. Dessen Ruf hat in den letzten Jahren ebenso gelitten wie jener der von links lange verklärten Diktatur des Landes. Aber derlei Unangenehmes pflegt man schnell zu verdrängen, wenn diese fulminanten Musikerinnen und Musiker spielen.
Fulminanter Tschaikowsky
Ihre Vitalität veredelt kraftvolle und virtuos mittelinteresante Gebrauchsmoderne wie „Todo Terreno“ von Ricardo Lorenz mit ihrem dichten Geflecht an Haupt- und Nebenstimmen. Aber Dudamel gelang mit dem Orchester auch eine herausragende Aufführung der ziemlich abgedroschenen Symphonie Nr. 4 von Peter Tschaikowsky. Keine Sekunde vermisste man hier die schlecht gelaunte Seelentrauer russischer Orchester, die uns derzeit aus politischen Gründen nicht besuchen. Und das ist die zweite Einsicht dieses Abends.
Dudamel bot eine riesige Besetzung auf: zehn Kontrabässe, acht Hörner und verdoppelte Holzbläser. Aber purer Krach war nicht sein Ziel, eher eine klangliche Rundung. Dieses Ziel wurde erreicht. Mehr noch: Leise Stellen wurden nicht überspielt, das Sentiment nicht zur Sentimentalität ausgewalzt. Erst im letzten Satz, wo Tschaikowsky oft ein dreifaches Forte vorschreibt, drehte das Orchester richtig auf. Aber durchaus im Sinn einer Dramaturgie dieses von Schicksalsfanfaren durchzogenen Stücks: Die schneidenden Beckenschläge hatten den Beigeschmack von Tragödie und kosmischer Apokalypse, als falle der Hammer im Finale von Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6. Und das ist eine Tiefendimension von Dramatik, die nicht jeder Dirigent bei Tschaikowsky herauszuholen vermag.
Bei den beiden Zugaben – darunter dem Mambo aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ – regierte dann nach dem vorangegangenen Ernst wieder der lateinamerikanische Spaß. Das ist eine Mischung, die so nur dieses begeisternd-begeisterte Orchester und dieser Dirigent hinbekommen.