Wohnen

Erdoğan rasselt mit dem Säbel | ABC-Z

Als islamistische Rebellen auf die syrische Hauptstadt Damaskus vorrückten und am 8. Dezember den langjährigen Gewaltherrscher Baschar al-Assad stürzten, nutzten von der Türkei unterstützte Milizen die Gunst der Stunde. Kämpfer der „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA) haben ihre Angriffe auf kurdische Einheiten im Norden Syriens verstärkt. Ankara selbst zieht Truppen an der Grenze zusammen und attackiert kurdische Stellungen mit Drohnen. Zudem werden öfter Angriffe von Kämpfern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gemeldet.

„Die Lage in Nordostsyrien ist sehr schwierig“, sagt Îlham Ahmad im Gespräch mit der F.A.Z. Sie ist die Außen­beauftragte der international nicht anerkannten kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten Syriens. Die Kurden nennen das Gebiet Rojava. „Wir brauchen dringend internationale Unterstützung“, sagt Ahmad. Dabei geht es einerseits um humanitäre Hilfe, andererseits bittet sie die internationale Gemeinschaft, auf die Türkei einzuwirken und einen Waffenstillstand für ganz Syrien auszuhandeln.

Die Flüchtlinge leben vorerst in Schulen

In den vergangenen Wochen waren protürkische Milizen in kurdisches Gebiet vorgerückt. Sie nahmen Städte wie Tal Rifaat und Manbidsch ein; die von kurdischen Einheiten geführten „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) mussten sich auf die Ostseite des Flusses Euphrat zurückziehen. Hilfsorganisation meldeten bis zu 100.000 Menschen, die in dem Gebiet auf der Flucht seien, Ahmad spricht gar von 150.000. Ein Teil der Flüchtlinge sei in Schulen untergebracht in der Umgebung von Raqqa, ein anderer Teil auf Häuser, Privatwohnungen und Siedlungen in anderen Bereichen von Nordostsyrien verteilt worden. „Es ist Not am Mann“, sagt sie.

F.A.Z.

Und die Lage spitzt sich zu. Ankara zieht Truppen nahe der Stadt Kobane zusammen, die direkt an der türkisch-syrischen Grenze liegt. 2015 hatte die ame­rikanisch-kurdische Allianz den IS von dort vertrieben. Ahmad sagt, die Stadt sei mittlerweile von drei Seiten umzingelt. Protürkische Milizen stünden vor den Toren der Stadt, die Türkei greife Kobane mit Drohnen an. Am Dienstag zitierte das „Wall Street Journal“ aus einem Brief Ahmads an Donald Trump, in dem sie darauf dringt, der künftige amerikanische Präsident solle die Türkei von einer Militär­offensive abbringen.

Zwar versuchen laut Ahmad die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien, die Situation zu entschärfen, indem sie eine Waffenruhe mit Ankara verhandelten, doch sei bisher jeder aus­gehandelte Waffenstillstand von der SNA gebrochen worden. Die aktuelle Feuerpause gelte bis Sonntag. „Was dann passiert, weiß Gott allein.“ Manche Beobachter glauben an einen Einmarsch in den kommenden Wochen. Andere gehen davon aus, dass Ankara zwar eine Droh­kulisse aufbaue, aber nichts unternehmen werde, bevor Trump am 20. Januar das Präsidentenamt übernimmt.

Die Türkei hat schon angekündigt, ihre Truppen so lange an der Grenze zu lassen, bis die kurdischen Kämpfer im Norden Syriens „die Waffen niederlegen“. Die Bedrohung dort bestehe weiter, sagte ein Sprecher des türkischen Verteidigungsministeriums am Donnerstag. Ankara sieht in den zu den SDF gehörenden Kurdenmilizen Ableger der in der Türkei als terroristisch eingestuften und verbo­tenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK). Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan legte am Freitag nach: „Es ist an der Zeit, die in Syrien existierenden Terrorgruppen auszulöschen“, sagte er. Erdoğan nannte dabei ausdrücklich den IS und die kurdische Arbeiterpartei „PKK und ihre Verbündeten“.

Kurden kommen Erdoğan entgegen

Einer Forderung Ankaras hat die SDF schon zugestimmt: Sollte es zu einem andauernden Waffenstillstand mit der Türkei kommen, würden ausländische Kämpfer Syrien verlassen, die sich der SDF angeschlossen haben, sagte der Komman­deur Maslum Abdi am Donnerstag in ei­nem Gespräch mit der Agentur Reuters. Neben dieser Zusage gibt es laut Ahmad eine weitere Initiative für einen dauerhaften Waffenstillstand. „Um der Türkei ihre sogenannte Terrorangst zu nehmen, würden wir uns für eine – wie von der Türkei gefordert – entmilitarisierte Zone von 30 Kilometern an der türkisch-syrischen Grenze einsetzen.“

Das Angebot basiert auf einem Vorschlag des türkischen Präsidenten Erdoğan, den er 2019 in New York den Vereinten Nationen präsentierte. Erdoğan sprach damals von einer „Schutzzone“ in Nordsyrien, um die Rückkehr von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei zu ermöglichen. Er schlug vor, dass zunächst ein Korridor mit einer Breite von 30 und einer Länge von 480 Kilometern eingerichtet werde, der die Ansiedlung von bis zu zwei Millionen Syrern ermögliche. Später könne dieser Korridor bis nach Raqqa und Deir ez-Zor ausgeweitet werden. Ahmad sagt nun, dass so eine ent­militarisierte Zone unter die Aufsicht und den Schutz einer internationalen Friedenstruppe gestellt werden könne. „Dann wäre die Türkei zufrieden, und es gäbe keinen Grund mehr, Krieg zu führen.“

Îlham Ahmad, Außen­beauftragte der international nicht anerkannten kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten Syriens.
Îlham Ahmad, Außen­beauftragte der international nicht anerkannten kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten Syriens.Picture Alliance

Über die Rolle der Kurden in Syrien ging es auch beim Besuch von Außen­ministerin Annalena Baerbock in Ankara am Freitag. Zuvor hatte sie die Türkei aufgefordert, die Kurden in den syrischen Friedensprozess einzubeziehen. Das werde sie „sehr, sehr deutlich machen“. Die Kurden seien wie Deutschland Teil der Koalition gegen den IS. Die Einbeziehung aller Gruppen in Syrien sei daher auch „in unserem eigenen nationalen Sicherheitsinteresse“, sagte Baerbock.

Ahmad betont, dass ihr Ziel ein Syrien sei, in dem die Menschen in Sicherheit und Frieden leben können. Die Selbstverwaltung zu behalten ist dabei das oberste Ziel. „Wir könnten einen sehr großen Beitrag zum modernen Syrien liefern“, sagt sie. „Wir sind weltlich und kein religiöser Staat.“ Die nun in Damaskus herrschende Islamistengruppierung Hayat Tahrir al-Sham (HTS) unterhält Kontakte mit der SDF, beide haben einen Nichtangriffspakt geschlossen.

2000 amerikanische Soldaten stationiert

Auch mit den Behörden der Selbstverwaltung steht die HTS zwar in Kontakt. „Für die Sicherheit Syriens, den Aufbau einer neuen Armee und den gesamt­gesellschaftlichen Wiederaufbau Syriens haben wir viele Punkte, die wir gern mit HTS besprechen würden“, sagt Ahmad. „Aber man hat unserem Vorschlag, dass man sich zusammensetzt, noch nicht geantwortet.“ Die HTS behaupten bisher, die Rechte von Minderheiten zu schützen, auch die der Kurden. Gleichzeitig sprechen sie sich für ein geeintes Syrien aus. Ein autonomes Gebiet im Nordosten dürfte nicht in ihrem Interesse sein.

Eine Bedrohung für Syriens Sicherheit stellt derweil der IS dar. Während die kurdischen Kräfte im Westen gebunden sind, nehmen die Angriffe der Terroristen zu. Der Syrien-Fachmann Alexander McKeever sieht aber weniger einzelne aktive Zellen als Gefahr an als vielmehr die Tausenden IS-Kämpfer, die in kurdischen Gefängnissen sitzen, und ihre Familien, die in Lagern in Nordostsyrien leben. Sie könnten die Lage für einen Ausbruch nutzen. Zur Unterstützung der kurdischen Kräfte im Kampf gegen den IS sind amerikanische Truppen in der Region stationiert. War man bisher von 900 Soldaten ausgegangen, korrigierte das Pentagon am Donnerstag die Zahl auf 2000.

„Wir hoffen, dass er die Truppen nicht abzieht“, sagt Ahmad mit Blick auf Trump, der schon in seiner ersten Amtszeit einen kompletten Abzug aus Syrien geplant hatte. „Die SDF wäre allein ohne internationale Unterstützung auf Dauer nicht in der Lage, ganz allein diesen schwierigen Kampf zu führen.“

Back to top button