“Er hat uns stärker gemacht”: Beckenbauer-Weggefährte widerspricht allgemeiner Wahrnehmung vehement | ABC-Z
München – Der 8. Mai 1976, Horst Hrubesch wird den Tag nie vergessen. 30. Spieltag, Rot-Weiß Essen spielte die beste Bundesliga-Saison der Klubgeschichte. Im Kader standen in der Offensive der alte Willi Lippens und der junge Manni Burgsmüller. Hintendrin borstige Defensivgranden wie Hans-Günter Neues und Hartmut Huhse. Überall auf dem Platz der quirlige Dieter Bast, und wer sich als Gegenspieler über die Mittellinie wagte, hörte schon das Knurren von Werner Lorant. Nicht minder grimmig an der Seitenlinie als Trainer der gestrenge Ivica Horvat.
Gerd Müller verhalf dem FC Bayern zu einem 3:3 gegen Essen
Am Ende wurde die Mannschaft Bundesliga-Achter, acht Punkte hinter Meister Gladbach, vier Zähler hinter dem FC Bayern auf Rang drei, dem Klub, der in jenem Jahr zum dritten Mal in Serie den Henkelpott der Landesmeister gewann.
Jener große FC Bayern kam an diesem 8. Mai nach Essen, zu einem unvergessenen Spiel, zur wohl legendärsten zweiten Halbzeit, die das ehrwürdige Stadion an der Hafenstraße je erleben durfte. Burgsmüller brachte die Hausherren nach einer torlosen ersten Hälfte mit einem Doppelpack 2:0 in Front. Gerd Müller verkürzte per Elfmeter nach 72 Minuten, wieder zwei Minuten später aber traf ein 25-jähriger Mittelstürmer, der seine erste Bundesliga-Saison spielte, Horst Hrubesch. 3:1, das Spiel schien entschieden. Aber im Gegenzug machte es Bumm, Gerd Müller, das 2:3. Und in der 81. Minute fiel das 3:3.
Beckenbauer tunnelte Hrubesch gleich mehrfach
Es war aber nicht nur das Spiel selbst, das Hrubesch so in Erinnerung blieb. Sondern vor allem der Gegenspieler, der Torschütze des Ausgleichtreffers, Franz Beckenbauer. “Als Mittelstürmer hatte ich die Ehre, bei Angriffen des Gegners den Libero in Empfang zu nehmen”, sagt Hrubesch, der in seiner eigenen Diktion davon berichtet, dass ihn der Libero des FC Bayern an jenem Tag gleich mehrfach getunnelt habe.
“Dreimal hat er mir den Ball durch die Scheune geschoben. Da hast du gesehen, der ist fußballerisch aus einer anderen Welt. Und was es für einen Unterschied macht, wenn der eine Weltklasse ist und der andere aus der Bezirksliga in die Bundesliga kommt.”
Hrubesch: “Zur Winterpause haben sie uns schon zugetraut, dass wir die Klasse halten können”
Für Hrubesch, der im Hinspiel in München gefehlt hatte, war es die erste Begegnung mit Franz Beckenbauer. Niemals, sagt er im Telefonat aus Hamburg mit der Abendzeitung, hätte er damals daran gedacht, dass er einmal mit ihm in einer Mannschaft spielen würde – und auch nicht, dass die beiden eine tiefe Freundschaft verbinden würde, über den Fußball hinaus bis zum Schluss.
Drei Jahre kickte Hrubesch in Essen, 1978 wechselte er nach Hamburg. Der HSV war damals Mittelmaß, neben Hrubesch kam auch Bernd Wehmeyer aus Hannover, dazu Jimmy Hartwig von Sechzig, in den Medien handelte man den Klub als Abstiegskandidaten. “Zur Winterpause aber haben sie uns schon zugetraut, dass wir die Klasse halten können”, sagt Hrubesch, es ist das Understatement eines Wahlhanseaten.
Kaltz über Beckenbauer: “Der Franz ist immer noch absolute Klasse”
Der HSV war nach der Hinrunde Zweiter und am Ende der Saison auch dank der immerhin 13 Tore von Horst Hrubesch Deutscher Meister. Und dann kam die aberwitzige Geschichte mit Franz Beckenbauer. Beckenbauer war in seinem dritten und letzten Jahr bei Cosmos in New York, kurz vor Silvester 1979 flog er zu einem Benefizspiel nach Dortmund ein, die Borussia spielte für Unicef gegen eine Weltauswahl. Beckenbauer lief zu Höchstform auf, mit seiner gewohnt erhabenen Eleganz, nach Abpfiff sagte Ex-Bundestrainer Helmut Schön: “Der Franz könnte in jeder Bundesliga-Mannschaft noch mithalten.”
Und beim Bankett im Hotel Römischer Hof meinte Manni Kaltz, der Mann für die Bananenflanke: “Der Franz ist immer noch absolute Klasse. Er wäre was für unseren HSV, vielleicht können wir ihn überreden.” Das Gelächter war groß, zumal Beckenbauer gleich abwinkte: “Bundesliga kommt für mich nicht mehr in Frage.” Dazu kam eine Oberschenkelverletzung im Frühjahr 1980, “16 Jahre im Profifußball sind genug”, sagte der Franz und kündigte für Sommer das Karriereende an.
Schwan musste Vertragsverhandlungen mit dem HSV aufnehmen
Doch dazu kam es nicht – weil ihn zwei alte Weggefährtin als nunmehr Führungspersonen beim HSV mit Nachdruck bearbeiteten. Branko Zebec, der Beckenbauer schon Ende der 1960er Jahre in München trainiert hatte und nun in Hamburg auf der Bank saß. Und HSV-Manager Günter Netzer, der frühere Rivale aus Gladbach und Mitspieler in der Nationalmannschaft. Schließlich war Beckenbauer mürbe, als er bei Robert Schwan in Kitzbühel anrief, mit der Bitte, die Vertragsverhandlungen aufzunehmen, erwiderte sein Manager nur: “Franz, Du spinnst.”
Aber der Franz meinte es ganz ernst, im Juli 1980 unterschrieb er einen Vertrag, der ihm eine Jahresgage von 1,1 Millionen Mark einbrachte – den Großteil zahlte Hauptsponsor BP. Neid, dass Beckenbauer mehr als das Doppelte verdiente als er selbst, sei bei ihm aber nie aufgekommen, sagt Horst Hrubesch: “Günter Netzer hatte uns immer wieder über den Stand der Verhandlungen informiert. Ich dachte mir, das wäre großartig, das würde passen wie die Faust aufs Auge. Und als er dann wirklich kam, habe ich mich riesig gefreut. So eine Rakete wie der Franz bei uns in Hamburg, das kann uns nur weiterbringen.”
Hrubesch: “Franz hat sich vom ersten Tag als Teil der Mannschaft eingefügt”
Und auch die Befürchtungen, dass so ein gealterter Weltstar Unruhe in das eingespielte Erfolgsensemble bringen würde, hätten sich dann nicht bewahrheitet, sagt Hrubesch. “Franz hat sich vom ersten Tag als Teil der Mannschaft eingefügt, ohne Gehabe, ohne Allüren. Er war hochprofessionell im Auftreten. Beim Training kam er als Erster und ging als Letzter. Und wenn jemand Fannähe zeigte und jedem seinen Autogrammwunsch erfüllte, dann war es er. Wir schauten alle zu ihm auf.”
Beckenbauer kam im Oktober 1980 nach seinem Abschiedsspiel bei Cosmos nach Hamburg – mit ihm war der HSV die große Attraktion der Stadt. Wo sich am Trainingsgelände in Ochsenzoll sonst eine Handvoll Unentwegte verloren, strömten nun oft an die tausend Schaulustige heran. Noch ein Zitat von Manni Kaltz damals: “Normalerweise gehen die Menschen sonntags in den Zoo zu Hagenbeck. Heute kommen sie halt zu uns.”
Beckenbauer feierte HSV-Debüt im November 1980
Statt Elefanten schauten sich die Menschen eben nun den Kaiser an. Sein Debüt feierte Beckenbauer im November 1980 am 14. Spieltag als Einwechselspieler, auswärts in Stuttgart. In seiner ersten Saison wurden seine neuen Hamburger Vizemeister hinter seinen alten Bayern. Doch ab da (1981) plagten ihn permanent Verletzungen, von der Bauchmuskelzerrung über eine Achillessehnenreizung bis zum Adduktorenabriss.
Als Beckenbauer im März 1982 nach wieder einmal fünf Wochen Pause daheim gegen Stuttgart ein erneutes Comeback feierte, sprang ihm nach einer Ecke Horst Hrubesch ins Kreuz. “Wir hatten die Laufwege blind einstudiert”, sagt Hrubesch heute, “leider stand der Franz in diesem Moment am falschen Ort.” Mit einem Nierenriss kam Beckenbauer in die Klinik, es reichte gerade noch zu einem Kurzeinsatz zur Meisterfeier am letzten Spieltag, beim bedeutungslosen 3:3 gegen den KSC. Abgesehen von einer kurzen Rückkehr zu Cosmos 1983 war des Kaisers Karriere als Spieler damit vorbei.
Beckenbauer-Weggefährte: “Wir sind auch wegen ihm Meister geworden”
Dass Beckenbauer in Hamburg noch gut verdient, aber wenig zum Meistertitel 1982 beigetragen habe, das hat sich eingeprägt in der allgemeinen Wahrnehmung. Hrubesch widerspricht diesem Bild jedoch vehement. “Wir sind mit ihm und auch wegen ihm Meister geworden”, sagt er. “Weil er uns im Training weitergebracht und stärker gemacht hat. Wie er die Bälle annahm, wie er sie verarbeitete, das gab uns Sicherheit. Und selbst wenn er verletzt war, mit dem Gefühl, ihn bei uns zu haben, wurden wir nur noch besser.”
Lange war auch noch offen, ob Bundestrainer Jupp Derwall Beckenbauer für die WM 1982 reaktivieren würde. “Ich hätte ihn sofort genommen”, sagt Hrubesch, der damals mit dem DFB-Team Vizeweltmeister wurde. Und wer weiß, wie das Turnier gelaufen wäre. Ob es für den Titel gereicht hätte, ist müßige Spekulation.
Hrubesch und Beckenbauer blieben nach der HSV-Zeit eng verbunden
Dass es am Ende nichts wurde mit einer Nominierung, ist schon deshalb schade, weil man zu gerne einen wütenden Beckenbauer während des Skandalspiels von Gijon erlebt hätte, wie er seine Mitspieler wild gestikulierend zusammengestaucht und den Nichtangriffspakt gegen Österreich im Alleingang beendet hätte, vermutlich mit den Worten: “Wo samma dann. Mir spuin doch ned Obergiesing gegen Untergiesing.”
Hrubesch und Beckenbauer blieben auch nach ihrer aktiven Zeit eng verbunden. Gute Freunde, die niemand trennen kann. Immer wieder telefonierten sie, sie trafen sich in Hamburg oder München, manchmal besuchten sie auch einen gemeinsamen Freund in Lübeck. Und wenn Hrubesch in den 16 Jahren als Jugendtrainer der verschiedenen U-Mannschaften des DFB ins Trainingslager in die Alpen fuhr, dann schaute Beckenbauer immer wieder auf einen Sprung vorbei, plauderte mit seinem alten Mitspieler und erwähnte natürlich wieder einmal, dass er, der Horst, es gewesen sei, der mit seinem Sprung ins Kreuz schuld am Karriereende gewesen sei. “Das hat er mir immer wieder vorgehalten”, sagt Hrubesch. “Aber natürlich immer im Scherz mit seiner charmanten, liebevollen Art, da war überhaupt kein Groll. Wir wussten beide, wie’s gemeint war.”
Hrubesch über Beckenbauer: “Es kam bei ihm immer von Herzen”
Bei Karitativ-Veranstaltungen habe der Franz ohne zu zögern zugesagt – wenn es darum ging, kranke Kinder zu besuchen, für eine Weihnachtsfeier in einen Kindergarten zu gehen, ein Trikot zu spenden, behinderten Menschen durch die Anwesenheit eine Freude zu machen. “Es war immer natürlich, es kam bei ihm immer von Herzen”, sagt Hrubesch. “Es war gelebt. Nie aufgesetzt. Nie, weil gerade Kamerateams und Fotografen da waren.” Die Lichtgestalt brauchte keinen Scheinwerfer. Sie leuchtete von innen.
Bewundert habe er ihn für die Organisation der WM 2006, sagt Hrubesch. Wie es Beckenbauer mit diesem Turnier gelungen sei, das graue Image des Landes zu ändern. Wie man zeigte, dass die Deutschen feiern können. Und wie die Welt zu Gast bei Freunden war. Und noch heute ärgert er sich darüber, wie er 2015 mit den Enthüllungen zur Vergabe des Sommermärchens an den Pranger gestellt wurde. “Das war nicht fair”, sagt Hrubesch.
HSV-Legende denkt immer noch oft an Beckenbauer
In den letzten Jahren wurde der Kontakt seltener, Beckenbauer lebte zurückgezogen in Salzburg, schwer gezeichnet von seinen Krankheiten. Jetzt, ein Jahr nach seinem Tod, sagt Horst Hrubesch zum Abschluss des Gesprächs noch: “Ich denke noch immer sehr oft an ihn. Und ich empfinde tiefe Dankbarkeit, dass ich so eine große Persönlichkeit als Freund haben durfte. Er war eine Bereicherung und ein großer Gewinn für mein Leben.”Die drei Scheunen an der Hafenstraße hat er ihm längst verziehen.